Als ich, den alten Rucksack, der mir schon bei jugendlichen Trampereien diente, auf dem Rücken,
den blauen Strohhut auf dem Kopf und die Eulentasche mit dem Skizzenbuch und den Reisepapieren über der Schulter
, den Zug verlasse, stehe ich auf dem Frankfurter Südbahnhof. Es ist unbekanntes Terrain. „Zu meiner Zeit“ gab es hier keinen Bahnhof, durch den die IC- und ICE- und wie-sie-alle- heißen-Züge rauschen. Ich wollte hier auch gar nicht landen, aber mein in Düsseldorf aus Amsterdam erwarteter Zug erschien nicht, und so nahm ich einen anderen.
Dora hüpft um mich herum und schreit und fuchtelt: Hier gehts lang! Aber was weiß meine arme Dora schon von dieser Welt aus Hinweisschildern und Apparaten! Ist denn niemand zum Befragen da? Amtspersonen gibt es anscheinend nicht, und so folge ich einfach dem vielsprachigen Menschenstrom, der sich vom Bahnsteig in die Schächte der Städtischen Verkehrsbetriebe verliert.
An der Hauptwache tauche ich wieder auf, erkenne aber nichts wieder. Doch ja, die altehrwürdige Hauptwache, die kenne ich schon noch, aber dieses versenkte Zement-Rondell mit dem elektonischen Museum und allerlei anderen Diensten überquere ich zum ersten Mal. Auch verstellen gläserne Türme den Horizont. Mir fällt der Bauer aus Samothrake ein, der mir von seiner Verwirrung in Athen erzählte: wie sollte er sich orientieren, wenn er keinen Horizont sah?
Auch ich versuche vergebens, mich zu orientieren: Wo gehts lang zur Bockenheimer Warte? Ein Mann mit Fahrrad gibt mir Bescheid: „Da drüben der Turm!“ Neun Jahre Frankfurt sind zum Glück nicht spurlos an mir vorbei gegangen – der gewiesene Turm ist durchaus nicht der Bockenheimer, sondern der Eschenheimer Turm. So verzichte ich weise darauf, dem Ortskundigen zu folgen, und tauche ein weiteres Mal hinab in den Untergrund, in dem sich schmuddelige Plätze und Gänge wie in einem schlecht gewarteten Kaninchenbau in alle Richtungen ausbreiten.
Um es kurz zu machen: Ich finde die richtige U-Bahn („Ich sagte es dir, nimm die U Vier!“ reimt Dora), finde auch mein kleines freundliches Hotel, gleich gegenüber von meinem ehemaligen Arbeitspatz: dem Pädagogenturm. „Wo issn der?“ fragt mich Dora. Ich hab ihr öfter mal von diesem einst höchsten Turm Frankfurts erzählt (alles Wissenswerte hier), und wie ich dort neun Jahre als Lehr- und Forschungsassistentin malocht habe. Na schön, nicht eigentlich malocht, es waren privilegierte Arbeitsbedingungen, ich konnte meine Arbeitszeit weitgehend selbst regeln, konnte promovieren, und gut bezahlt war der Job sowieso. Aber der Turm war ein Graus. Unter dem Sturm ruht der Sturm oder Im Turm lebt ein Wurm – derlei Graffiti-Sprüche zierten den schmutzigen Treppennotaufgang aus Rohbeton, den ich oft anstelle der stets von Studenten umlagerten und oft ausfallenden Aufzüge benutzte, um ins 13. Stockwerk zu gelangen. Die Fenster der Büros ließen sich nicht öffnen – wegen Selbstmordgefahr. Sich von einem dieser anonymen Stockwerke hinabzustürzen – die Versuchung war groß.
„Den Turm gibt es nicht mehr“, gebe ich Dora Bescheid. „In einem erleuchteten Moment hat der Magistrat beschlossen, ihn zu sprengen“. Ich versuche gar nicht, meine Genugtuung zu verbergen. Dora schaut mich fragend an. Dass ich Turmsprengungen begrüße, ist ihr neu.
„Netter Laden“, meint Dora anerkennend, als wir vor dem Hotel Beethoven stehen. Ich stimme gern zu, kenne „den Laden“ von einem früheren Aufenthalt. In dieser Gegend ehrt man deutsche Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts per Straßennamen : Schubert, Mendelssohn, Schumann, Beethoven, auch nicht mehr sehr bekannte romantische Dichter (Ernst Moritz Arndt, Moritz von Schwind) und der völlig in Vergessenheit geratene Maler Peter von Cornelius werden in Erinnerung gerufen. Das passt zu der gediegenen Vorkriegs-Architektur, finde ich. Der Angestellte am Empfang fragt mich sogleich, ob ich Griechisch spreche (Name und Ausweis signalisieren es) – nun ja, das tue ich, er auch, ja, er ist Grieche, und so ist es schon fast wie zu Hause. Ob ich noch zu speisen wünsche? Er könne ein Restaurant in der Nähe empfehlen.
„Ist das nöt’ge Geld vorhanden, ist das Ende meistens gut“ (Brecht, 3-Groschenoper) – fällt mir ein, als ich in den Garten des italienischen Restaurants eintrete. Er ist gut besucht. Unter einer hübsch bemalten Sichtblende tafelt eine ethnisch durchmischte Gesellschaft., die ich von meinem Einzeltischchen an der Lagusterhecke aus beobachte, sofern ich nicht die Speisekarte studiere. Ich wähle Reis mit Safran und winzigen Tintenfischen. Vorweg gegen den Durst ein Bier vom Fass, zum Essen ein gutes Glas Weißwein und zum Nachtisch Vanilleneis mit Erdberen? Ein Limoncello zur Abrundung und Verdauung wäre auch nicht schlecht.
Speisend denke ich an zuvor beobachtete Straßenszenen, und mir fällt ein anderes Brecht-Zitat ein:
Dann löst sich ganz von selbst das Glücksproblem: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.
Wie im Traum wandere ich später „heimwärts“ durch die stillen Straßen dieses gediegen-wohlhabenden Stadtbezirks. Direkt am Weg – hier braucht es wohl keine Zäune, um Vandalen abzuhalten – plätschert Wasser über einen glatten Stein, fein beleuchtet inmitten von Kies und Pflanzen.
Die nun dunkle Kulisse der Christuskirche hebt sich scherenschnittartig gegen den Abendhimmel ab. Schon ist der kleine umgebende Park vom nächtlichen Dunkel verschluckt. Den Himmel beherrschen die strahlenden Paläste als Glas und Beton, die anstelle des gestürzten Pädagogenturms nun die Kulisse des westlichen Frankfurt bilden.
„Welche Verschwendung an Ressoucen“, murmele ich und drücke auf den Klingelknopf am Eingang des Hotels, in dem ich abgestiegen bin und nun, hoffentlich, gut schlafen werde.
„War das was?“ wispert Dora, als ich die Treppe hinaufsteige. „Ja, Dora, das war was“, gebe ich zur Antwort und sperre die Zimmertür auf. Am Morgen bin ich in Kalamata ins Flugzeug gestiegen, bin in Düsseldorf gelandet, habe die Schwebebahn zum Flughafen-Bahnhof kennengelernt, sah mich dann einem Chaos von Lautsprecher-Ansagen gegenüber, die ich nicht verstand, während ich auf einen Zug aus Amsterdam wartete, der nicht kam, stieg in einen anderen Zug, der mich immer am Rhein entlang nach Frankfurt trug, wo ich mich verirrte, fand endlich den Weg zum Hotel, wo ich griechisch empfangen wurde, speiste italienisch, um schließlich in einem bequemen Bett zu landen. Bevor ich einschlafe, fallen mir die bekannten Verse von Kavafis ein (Ithaka):
Wenn du aufbrichst nach Ithaka, / wünsche dir, dass der Weg lang sei, / voller Abenteuer, voller Erkenntnisse. / Die Laistrygonen und die Zyklopen, / den wütenden Poseidon fürchte nicht, /solche wirst du auf deinem Wege niemals finden, / wenn dein Denken hoch, wenn erlesene / Empfindung deinen Geist und Körper anrührt. / Den Laistrygonen und den Zyklopen, / dem wilden Poseidon wirst du nicht begegnen, / wenn du sie nicht in deiner Seele trägst, / wenn deine Seele sie nicht vor dich hinstellt….
Wünsche dir, dass der Weg lang sei. / Mögen der Sommermorgen viele sein, / an denen du, mit welcher Zufriedenheit, welcher Freude, / in nie zuvor erblickte Häfen einfährst. / …. in viele Städte Ägyptens geh, / zu lernen und zu lernen von den Wissenden. …
Beschleunige deine Reise durchaus nicht. /Besser, sie dauert viele Jahre / und du gehst, ein Greis schon, an der Insel vor Anker, / reich an dem, was du auf dem Weg gewannst…
Nun bin ich alt und doch wünsche ich mir noch viele Jahre der Reise. Ithaka darf gerne noch ein Weilchen warten!