„Was machst du da?“ fragt mich Will.i, als ich vor einem Bau stehenbleibe, hinter dessen Schaufenstern nichts zu sehen ist. Offenbar ist der vorige Mieter ausgezogen und ein neuer, der hier sein Geschäft eröffnen möchte, hat sich noch nicht gefunden. „Da gibt es nichts zu sehen“. – „Doch“, sage ich, „eine Spiegelung. Schau mal!“
„Und was willst du mit der Spiegelung? Wenn du dich umdrehst, siehst du das richtige Haus und zwar viel besser.“ – „Ja, freilich“, sage ich. „Da sehe ich dasselbe Haus im Raum, das sich hier auf der Fläche spiegelt. Man könnte hingehen, vielleicht auch drumrumgehen, denkst du. Ich denke das auch. Und warum? Weil ich es weiß. Mit meinem Auge sehe ich es eigentlich nicht. Denn mein Auge funktioniert ein wenig so wie der Spiegel hier, nur ist das Haus im Auge viel kleiner und steht auf dem Kopf. Im Hirn dreht sich das Bild, das sich in meinem Auge spiegelt, automatisch um, weil ich weiß, dass es andersherum gehört. Und weil ich zwei Augen habe, sehe ich zwei Bilder aus verschiedenem Winkel. Die kombinieren sich in meinem Hirn und so entsteht eine dritte Dimension, der Raum. Auf dem Foto verliert das Haus seine dritte Dimension, da gibt es dann nur zwei Dimensionen: oben-unten und rechts-links. “
Will.i sieht mich zweifelnd an, und ich merke, wie schwer es ist zu erklären, wie das Sehen funktioniert. Weiß ich es denn selbst? Ich versuche es dennoch erneut: „Auf einer Spiegelfläche hast du nur zwei Dimensionen: links-rechts und oben-unten. Fahr mal mit der Hand über die Scheibe. Kannst du um das Haus herum? Nein, es gibt keinen Raum. Aber du glaubst trotzdem, dass es einen Raum gibt. Du siehst es halt so, weil du es weißt. Du kennst den Raum, weil du in ihm herumspazierst. Ich kenne ihn auch, weil ich einen Körper habe.“
„Ich habe aber keinen Körper, oder?“ – „Ja und nein, kleiner Will.i. Bei dir ist es noch mal ein wenig anders, denn du gehörst hauptsächlich zur vierten Dimension.“
„?“ „Ja, du bist Zeit, mein kleiner Will.i. Du wächst anders als wir Menschen. Du veränderst dich anders. Und du veränderst die Dinge dieser Welt auf eine Weise, die wir nicht gut verstehen. Ich hoffe, durch dich zu lernen, wie sich die Dinge ändern, wenn man die vierte Dimension dazu nimmt.“
Ich fürchte, ich hätte dem Will.i besser von Zwergen und Riesen erzählt, da hätte er mehr verstanden. Aber als ich das Foto von dem „richtigen“ Haus mithilfe eines 3-D-Programms auf einen Kasten projiziere, so dass es aussieht, als sei es nun ein Bild im TV – da wird er sehr nachdenklich.
Es arbeitet in ihm. „Die Häuser und Menschen und Autos im Fernseher sind also nicht wirklich?“ „Doch, doch, als Bilder sind sie schon wirklich, aber eben nur als Bilder. Die wirkliche Wirklichkeit kannst du so nicht erleben. Die wirkliche Wirklichkeit erfährst du anders. Ihr begegnest du am besten im Tun, mein Will.i.. Komm, wir überqueren die Straße und kaufen in der Bäckerei ein Brot. Aber pass auf! Die Autos kommen aus beiden Richtungen angerast, also schau erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links, nach rechts, nach links und auf gehts! “
ps. Ich habe eben gegoogelt, um zu erfahren, wie denn Kindern in Will.is Alter das Sehen erklärt wird. Offenbar ist es in der 3. Klasse Lehrstoff. Ich fand diverse Arbeitsblätter dazu, zB dies: https://www.sachunterricht-grundschule.de/Das-Auge-Arbeitsblatt.htm#.
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