Ich fühle hier in Griechenland den Atem der Mythen ständig in meinem Gesicht. Ich mag das, es belebt mich, bringt mir Schichten in mir selbst zu Bewusstsein, die sich tief im Unbewussten als Archetypen abgelagert haben. Es ist das abendländische Substrat, das mich schon lange, bevor ich einen Fuß in dieses Land setzte, prägte. Meinen ersten Hund – ich war damals 16 – taufte ich Ajax, nach dem „schnellen Held vor Troja“.
Und so nimmt es nicht wunder, dass es auch in meiner Legebildwelt von griechischen Mythen nur so wimmelt. Mit den Abenteuern des Odysseus habe ich sogar zwei Legebild-Leporellos bestritten.

Die Befragung des Ödipus durch die Sphinx taucht in meinen Geschichten immer wieder auf.

Den Mythos von den 50 Danaiden, die sich vor einer Zwangsverheiratung aus Ägypten nach Argos in auf der Peloponnes retten, lasse ich Danai im „kleinen Welttheater“ erzählen. Hera wird Danais Erzählung, die der patriarchalischen Version entspricht, korrigieren. So versuche ich zu zeigen: Immer wurden die Mythen durch die jeweiligen Herrschaftsinteressen mitgeprägt und uminterpretiert.

Ist dir eigentlich bewusst, dass von allen Mythen viele Versionen existieren? Athene war eine große Göttin, lange bevor sie erneut als junges Ding aus dem Haupt von Zeus entsprang (eine Vatergeburt, von der bis heute so mancher Mann träumt, der die skandalöse mächtige Rolle der Frauen im Fortpflanzungsgeschehen auszutilgen wünscht). Oder Hera – die Große Göttin, von der die Wörter für das „Heilige“ (Hiero) und den „Helden“ (Heros) und vielleicht auch das Wort „Herrin“ (Herr: althochdeutsch heriro, hèrero, hèrro) und deren Heros Herakles („Ruhm der Hera“) abgeleitet sind -, wurde nach einem missglückten Aufstand (Zeus ließ sie im Himmel kreuzigen und die Titanen, die ihr halfen, in den Tartaros verbannen) zur eifersüchtigen Ehefrau des Bruders und Usurpators Zeus herabgewürdigt …

Die Geschichte der gottbesessenen Jungfrau Io habe ich in vielen Legebildern (hier: Io wird erlöst) interpretiert. Sie ist eine der Hintergrundgestalten in meinem Roman „Schwanenwege“. Das griechische Wort für Roman ist übrigens mythistorima, „Mythenerzählung“

Die Verwandlung der Mythen unterliegt den jeweils geltenden Ideologien, sie segnen Herrschaftsverhältnisse ab. Darin gleichen sie den Religionen, sind aber beweglicher, da nicht in Büchern festgehalten und zu Dogmen erstarrt.
Wie Mythen ursprünglich entstanden sind? Vermütlich ähnlich wie die Märchen. Ich habe mir in einer früheren abc-etüde mal einen Reim drauf gemacht:
In jenen fernen Zeiten
Als junge Frauen bei den Alten saßen
Und flink die Spindel drehten oder auch
Das Schiffchen durch gespannte Fäden jagten
Um Stoff zu weben für die Festgewänder
Und ihre Stimmen hoben sich und senkten
Sich mit dem Schiffchen – ja da war es
Dass mit dem Fadenlauf die neuen
Und alten Mythen ausgesponnen wurden.
Viele viele Mythen habe ich in meinen Legebildergeschichten nacherzählt und ausgeschmückt. Endlos würde dieser Beitrag, würde ich sie alle anführen. Manche erzähle ich in der bekannten Form, meistens aber bringe ich sie in neue Zusammenhänge. Drei Beispiele:



Zum Abschluss: Die Tourismuswerbung ist eines der vielen Einsatzgebiete für Mythenerzählungen heute.
„Lebe deinen Mythos“ stand 2015 auf den riesigen Transparenten, die den Besucher bereits am Flughafen begrüßten. Ich machte daraus eine kritische Geschichte: kommst du abgerissen und gar mit der falschen Hautfarbe an, könnte es auch im gastfreundlichen Griechenland schwierig werden, „deinen Mythos zu leben“.

Lebe deinen Mythos
Ja, diese Mythen werden immer wieder neu aufgerollt – und sich heute in exakt derselben Weise bedeutsam, wie zuvor (in der Antike). Diese Athene / Athena ist übrigens auch nicht ungefährlich, wenngleich sie keinen konkreten Hass auf alle Menschen pauschal hat. Arachne war beispielsweise sehr übermütig – und war dann dem Zorn der Athene ausgesetzt -> https://www.mythologie-antike.com/t171-arachne-mythologie-spinnerei-meisterin-schliesslich-von-athene-in-eine-spinne-verwandelt
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PS: Pest oder Cholera? Warum wurde Athene / Athena zur Lieblingsgöttin erkoren? Ich schätze, es liegt daran, dass sie nicht alle Menschen pauschal hasst – so, wie die meisten anderen Götter -> https://www.mythologie-antike.com/t104-athene-auch-athena-gottin-der-weisheit-und-strategie-schutzherrin-von-athen
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Die meisten Leute dieser Welt glauben, dass die Mythen heute keine Bedeutung mehr haben – und tun alles pauschal als „Märchen“ ab. Das kann aber nicht so sein, wenn man alleine mal auf die aktuellen Namensgebungen einen Blick wirft: „Weltberühmt sind die Missionen des Apollo (Apollo 11 – 17). Aktuell tritt Artemis im Rahmen vom Artemis-Programm in die Fußstapfen ihres Zwillingsbruders Apollo und plant, als Göttin der Mondsichel, zwischen 2026 – 2028 auf dem Mond zu landen. Weiterhin wird Artemis heute auf vielen Nationalflaggen dieser Welt mit der Mondsichel-Symbolik gehuldigt. Jeder bemerkt daran, dass die Götter tatsächlich unsterblich sind. In der Filmreihe Tribute von Panem ist die Rolle der Katniss Everdeen das Ebenbild der Artemis.“ -> https://www.mythologie-antike.com/t101-artemis-gottin-der-jagd-und-huterin-vom-wald-zwillingsschwester-von-apollo
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Dass heute antike Götter ihre Namen für Weltraumexpeditionen hergeben müssen, zeigt ja nicht, dass man die Mythen noch versteht. Die Mondsichel auf Flaggen hat nichts mit Artemis zu tun. Sie wird in Flaggen islamischer Länder benutzt, die mit dem Mondkalender rechnen.
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Du hast dich an dem Gedanken festgebissen, dass die Götter die Menschen hassen. Meines Erachtens projizierst du da was Eigenes in den Himmel.
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Unser erster Hund hieß Diogenes, genannt Dio, weil seine Hütte eine Tonne war. Er schaute auch immer so ernst überlegend wie ein Philosoph in die Welt, von daher war der Name doppelt gerechtfertigt.
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Auch hier werden oft Tonnen als Hundehütten benutzt, was ich nicht so toll finde, da sie bei Sonne sehr aufheizen. Euer Diogenes hatte es aber sicher besser getroffen.
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Mythen persönlich machen(!) mit ihnen, durch sie Anstöße, manchmal auch wie “ neue Augen“ zu bekommen, etwas neu sehen lernen…das machst du mit deinen Texten und deinen Bildern. Das ist anregend und begeisternd !!!
Ein Freund wies mich auf Daniel Mendelsohns Buch “ Eine Odyssee. Mein Vater , ein Epos und ich“ hin. Ich habe es auf einen Rutsch durchgelesen, und es beschäftigt mich weiterhin sehr…
Es geht um ein Seminar des Autors zur Odyssee, an dem überraschender Weise sein 81jähriger Vater, emeritierter MatheProf, teilnehmen will. Das Epos wird aber keineswegs (wie der Titel vermuten lassen könnte)auf eine Familien-oder Mann/Frau..oder Vater/Sohngeschichte heruntergebrochen. Die Anstöße durch die Fragen, Gedanken und Wahrnehmungen der Studentinnen und Studenten jeweils zum Text, die Art wie der alte Vater sich immer wieder skeptisch einbringt,(Philologie gehört für ihn nicht zu den exakten Wissenschaften, aber er möchte verstehen ) die freilassende „Führung“ durch das Labyrinth der Ereignisse, der Bilder, der kunstvollen Erzähl-Technik des Homers, die der Autor und Protagonist gibt—und selber dauernd aus der ganzen Situation so vieles lernt …..
all das hat mich an deinen eigenständigen Umgang mit der Odyssee und anderen griechischen Mythen erinnert !!
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Dieser Odysseus wird nach meiner Meinung zu einseitig als Heros gefeiert. Der war nämlich auch fies. Ich kann kaum nachvollziehen, weshalb Athene ihm dieses Verbrechen durchgehen ließ: „Nun befinden wir uns in der Zeit, als die Griechen Troja belagerten. Da rächte sich Odysseus an Palamedes, indem er Gold im Zelt des Palamedes versteckte und ein Schreiben beifügte. Für den Verrat vom Lagerstandort der Griechen setzte Priamos in diesem Schreiben eine hohe Belohnung aus. Dieser gefälschte Brief und das im Zelt gefundene Gold, wurden Palamedes zum Verhängnis.“ -> https://www.mythologie-antike.com/t849-palamedes-mythologie-klugster-unter-den-menschen
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Kein Mensch behauptet, dass Odysseus ein ehrlicher Mann war – im Gegenteil, er war ein ausgemachter Trickser. Das ist sowohl in der Iliada als auch in der Odyssee offenkundig. Gerade darum aber ist er so interessant: ein moderner, selbst denkender Mensch in einer Zeit, die noch weitestgehend vom Götterdenken geprägt war. Auch Odysseus war natürlich von Göttern abhängig (Athene) bzw getrieben (Poseidon), aber er musste ständig seinen eigenen Mut und seine eigene Klugheit einsetzen, um zu überleben.
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Die Gerissenheit / Listigkeit des Odysseus wird auf Autolykos zurückgeführt, dem größten Profi-Dieb aller Zeiten -> https://www.mythologie-antike.com/t243-autolykos-mythologie-als-sohn-des-hermes-ein-besonders-begabter-dieb
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Liebe Elsbeth, danke für deine ausführliche zum Lesen anregende Besprechung eines Buches, das ich auch vor einiger Zeit mit großem Interesse las. Ich kann mich deiner Empfehlung nur anschließen.
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Deine beiden Leporellos über Odysseus beehe ich mir heute immer noch hin und wieder. Sie sind einfach wundervoll gestaltet und beschrieben, liebe Gerda
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Danke, Bruni, ich freu mich, dass du sie wertschätzt! 🙂
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Oh ja, Gerda. Sie sind etwas ganz Besonderes für mich.
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