Dora zum ZehntenNeunten: Ruhm (Samothrake-Bericht 6, mit täglichem Zeichnen)

„Berühmt unter den Menschen weltweit ist Samothrake nicht wegen seiner goldäugigen Ziegen, seiner Eichenwälder, seiner unerschöpflichen Wasserfälle und seines Bergmassivs, das sich unvermittelt zu anderthalb tausend Metern aus dem Meer auftürmt, nicht wegen seiner berüchtigten Stürme, seiner heillenden Schwefelquellen  und seiner gewaltigen Platanen, durch die die Bäche auch im heißesten Sommer ihr Wasser spielen lassen, berühmt ist es nicht wegen der Quarzadern und der anderen bunten Gesteine, die bei seiner Entstehung aus dem Inneren der Erde hochgeschleudert wurden. Es ist nicht berühmt wegen seiner Geschichte – obgleich hier der große Alexander in Heiliger Hochzeit von Olympias empfangen wurde, und obgleich hier der Apostel Paulus erstmals europäischen Boden betrat und unter einer Eiche predigte, die ich vor ein paar Jahren noch sah, sofern es die richtige war und nicht nur eine Legende….“

IMG_7646

Eiche des Paulus, Zeichnung von 1984

„Hör schon auf!“ unterbricht mich Dora. „Ich will wissen, warum Samothrake berühmt ist, und nicht, warum es nicht berühmt ist!“ – „Ich weiß“, gebe ich zur Antwort. „mit dem, was etwas nicht ist, zu beginnen, ist ein rhetorischer Trick. Damit wird das, was etwas ist, erst ins rechte Licht gerückt.“  –  „Und das wäre dieses etwas?“ –

„Geduld! Hab Geduld, kleine Dora!  Und hör zu! Berühmt ist Samothrake unter den Menschen also nicht wegen seiner Natur und wegen seiner Geschichte, obgleich es natürlich Menschen gibt, die die Insel gerade deshalb für etwas ganz Besonderes halten. Es ist auch nicht extra-berühmt wegen der großartigen Tempel, die die Ptolemäer, aus Ägypten kommend,  hier zu Ehren der großen Götter und natürlich vor allem zu ihren eigenen Ehren bauen ließen. Kaum jemand weiß etwas von den damals verehrten Kabiren und den Mysterien, die hier zu Urzeiten eingerichtet wurden … oder weißt du etwas davon?“ – „Nee, was ist das? Mysterien, Kabiren, nie gehört!“  – „Ach, lass man, Dora, vielleicht erklär ich es dir später.  …. Haben große Dichter Samothrake berühmt gemacht? fragst du vielleicht? Schon gut, du fragst nicht, aber ich antworte trotzdem: Ja und nein. Denn tatsächlich spielt die zentrale Szene von Goethes Faust II, als es um die Menschwerdung des Homunculus geht, hier auf dieser Insel, aber wer interessiert sich schon für Faust II? “ Und ich deklamiere:

     Fort sind sie im Nu!

     Nach Samothrace grade zu,
     Verschwunden mit günstigem Wind.
     Was denken sie zu vollführen
     Im Reiche der hohen Kabiren?

     Sind Götter! wundersam eigen,

     Die sich immerfort selbst erzeugen,
     Und niemals wissen was sie sind.“

Nike von Samothrake

Nike, Zeichnung von 1984

„Götter, die niemals wissen, was sie sind?“ fragt Dora erstaunt. „Gibts sowas?“ – „Ja, meine Liebe. Alles ist im Werden. Warum sollten die Götter da eine Ausnahme machen? Und eigentlich wäre es gerecht, wenn Samothrake wegen dem Goethe und den Werdegöttern berühmt wäre. Ist es aber nicht. Berühmt ist sowieso nicht die Insel, sondern nur das Wort Samothrake, weil … so, pass auf, jetzt verrate ich dir etwas!  Es gibt eine berühmte Statue, die Nike von Samothrake, und die steht im Louvre in Paris.“ – „Nicht hier?“ fragt Dora enttäuscht. – „Nein, Dora. Die meisten Kunstwerke stehen nicht dort, wo sie ursprünglich hingehören. Im Fall der Nike kam das so:  Der französische Vizekonsul im Osmanischen Reich Charles Champoiseau, fand 1863 die Fragmente der Nike-Statue, die vor Ort zusammengesetzt und nach Paris gebracht wurden (Wikipedia). Später fand man noch zwei Finger und einen Handteller. Kopf und Arme blieben unauffindbar. Die wurden vermutlich zu christlichen Zeiten in einem der Kalköfen verbrannt, die es zu Hauf auf der Insel gab. Den Kalk brauchte man für den Anstrich der Häuser und der Olivenbäume. Samothrake hatte wegen der Tempel soviel Marmor, dass es sogar Kalk in flachen Schaluppen ausführte. Die Nike hat vermutlich nur überlebt, weil sie bei einem Erdbeben begraben wurde.“ -„Na, besten Dank! begraben, überlebt ohne Kopf und Arme, zusammengebastelt, nee, und so was ist berühmt? Da bin ich ja besser dran! Zusammengebastelt bin ich ja auch, aber nicht kopflos!“

„Wahr!“ gebe ich zu. „Du hast Köpfchen, kleine Dora. Die Nike hingegen ist kopflos, und das ist ganz passend. Sie stellt den Sieg in einem Krieg dar, den die Menschen längst vergessen haben. Die Toten sind vergessen und auch die Überlebenden, keiner weiß, waren es die Leute aus Rhodos oder die aus ich weiß nicht von wo, die da gesiegt haben und die da besiegt wurden. Komm, lass uns die Nike mal anschauen.“ – „Ich denke, die ist in Paris? fliegen wir dahin?“  – „Nee, nee, Dora. Wir bleiben noch ein paar Tage hier auf der Insel. Hier gibt es eine getreue Kopie, die ist zwar aus Thassos-Marmor, der grobkörniger und glänzender ist als der von Paros, aus dem das Original ist, und sie sieht auch schrecklich neu aus, aber Wind und Wetter werden ihr hoffentlich bald ein bisschen Patina verleihen.“

Ich setze mich hin und versuche, die Nike zu zeichnen, wie sie auf hohem  Sockel vor dem Museum von Samothrake dem Himmel entgegen stürmt, begleitet von den Silhouetten der Bäume.

„Nimm lieber das Foto“, rät mir Dora grinsend. „Da kann man mehr drauf erkennen…. Aber doch nicht das Foto! Da sieht man ja die Stützen zwischen den Flügeln!“  –

„Ich finde es passend,“ murmele ich. „Alles fake! Die Göttin, die Statue, der Sieg …, der Sieg vor allem. Schön ist die Nike freilich trotzdem! Besonders mit diesem Himmel, diesen Wolken und Bäumen lasse ich sie mir gefallen. Am Ende siegt die Schönheit über alles andere.“

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Dichtung, Dora, Erziehung, Fotografie, Geschichte, Krieg, Kunst, Leben, Meine Kunst, Natur, Reisen, Zeichnung, Zwischen Himmel und Meer abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

15 Antworten zu Dora zum ZehntenNeunten: Ruhm (Samothrake-Bericht 6, mit täglichem Zeichnen)

  1. evaannacarola schreibt:

    Sie ist schön, Fake oder nicht. Und irgendwie bist du schwer verliebt in diese Insel…

    Gefällt 1 Person

  2. Was für eine interessante Insel und auch Du hast Nike zeichnerisch, sehr schön, verewigt.

    Findest Du es gut, daß griechische Kultur Kunst sich in anderen Ländern befindet? Auf der anderen Seite sind sie geschützt, aber im eigenen Land hätte man dies auch tun können. Hat Griechenland trotzdem immer das Recht seine Kultur Güter wieder zurück zufordern?

    Gefällt 1 Person

  3. Gisela Benseler schreibt:

    Die Eiche des Paulus, so wunderschön von Dir im Kunstwerk gestaltet, ist wirklich sehenswert!

    Gefällt 2 Personen

  4. wildgans schreibt:

    Wie bedeutungsvolle Grüße aus einer anderen, der geistigen Welt…

    Gefällt 2 Personen

  5. Mit deiner Dora gelingt es dir eine spannende Geschichte von Samothrake und der Nike zu erzählen.

    Gefällt 3 Personen

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..