Dora zum ElftenNeunten: Im Tempelbezirk (Samothrake-Bericht 7 mit täglichem Zeichnen)

Seit zwei Tagen bin ich wieder in der Mani, vorher auch in Athen. Der Mond wurde voll, nimmt nun wieder ab. Er wird jeden Tag etwa eine Stunde später erscheinen, wird Beulen bekommen, als blasser Schemen am Tageshimmel treiben und schließlich ganz verschwinden.

Die Bilder von Samothrake nehmen auch in mir ab, verblassen unaufhaltsam. Und doch, wie der Mond, der auch unsichtbar seine Wirkung ausübt, wirkt etwas, über das Sichtbare hinaus, in mir fort.

—–

Nicht das Sichtbare, das Materielle suche ich im Tempelbezirk der Kabiren, sondern die Verbindung mit einer geistigen Kraft, die man früher den spiritus loci oder auch genius loci, den Geist des Ortes nannte.

Als ich in glühender Mittagshitze durch das weitläufige Ausgrabungsgelände wandere, sehe ich einige meditierende Menschen, die offenbar Gleiches suchen. Mir gelingt es nicht.  Der Ort scheint mir wie von seinem Genius verlassen zu sein. Das macht mich traurig. Bin ich es, die den Kontakt nicht herstellen kann? Oder hat der Ort seine Kraft eingebüßt?

Ich versuche, mich zeichnend zu verbinden, setze mich auf einen Marmorblock und zeichne die aufgerichteten Säulen,  die so charakteristisch für den Bezirk sind.

Doch nichts Geistiges  will ich sich mir mitteilen, die Säulen rutschen aus dem Zentrum, während die groben Steine der Umrandung und der Baumbewuchs an Bedeutung gewinnen. Die erste Natur spricht zu mir, während der Geist der vormals angebeteten Götter stumm bleibt. Anders ist die Zeichnung desselben Motivs, die ich vor vielen Jahren, 1984, gemacht habe, mit Bleistift damals,  mit Kugelschreiber jetzt. Die Steine sind dieselben.

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Damals zeichnete ich auch das Theater (Kohle), dessen offene Schale den Himmel einfängt, während der Rand bereits in den Abgrund stürzen will. Jetzt ist das Gelände abgesperrt.

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Auch der Weg durch die Pforte des Todes, den die Frommen in alten Zeiten gingen, um in die Geheimnisse der Wiedergeburt eingeweiht zu werden, ist nun überwuchert und nicht mehr zugänglich. Und so fällt, was einst Bedeutung und höheren Sinn versprach, zurück in den Naturzustand.

In mein Raisonieren hinein höre ich Doras Stimmchen:  „Wer waren denn eigentlich diese ominösen Kabiren?“ Hm. Ja. Also. „Eigentlich waren sie Meergötter“, versuche ich eine Erklärung. „Man nannte sie die Großen Götter, aber sie waren eher Zwerge, im Vergleich zur Großen Mutter, der Kabeiro. Die wiederum hatte Proteus (der Erste), den „Alten des Meeres“ zum Vater. Proteus kann jede erdenkliche Form annehmen – und tut das auch ständig. Eben denkst du noch, er sei eine Robbe, da ist er ein Löwe, ist ein Baum, eine Flamme, ist Wasser, ist Schlange, ist Ratte. Immerzu metamorphosiert er.“

„? Was bedeutet metamor… also das Ding da?“  „Eben kein Ding, liebe Dora. Das Gegenteil von einem Ding ist Metamorphose. Es ist Verwandlung. Und die kann man eben nicht fassen, noch weniger als das Wasser oder die Luft. Alles verwandelt sich ja ständig, aber bei Proteus ist es schon sehr verwirrend, denn man weiß nie, was man grad vor sich hat.“ –

„Moment mal!“, kräht Dora. „Wie war das? Die Kabiren sind die Enkelkinder von diesem Verwandlungskünstler?“ – „Ja, so kann man es wohl sagen.“ – „Und die können sich auch verwandeln?“  – „So sieht es aus. Oder vielmehr, sie stellen die Kräfte der Verwandlung dar. Samothrake war, als diese Mythen entstanden, ein sehr wilder Ort, Erdbeben türmten sie auf und warfen alles über- und durcheinander, Stürme umbrausten sie, alles war zerklüftet, von Wald überwuchert. Das war ein mächtiges geradezu tobendes Umgestalten, das im Kabirenkult wohl ein bisschen geordnet wurde. Die Kabiren stellte man nämlich in Form von Krügen dar, in denen man Weihrauch und andere Kräuter verbrannte. In den Rauch sprach der Priester dann hinein und verband sich so mit den Göttern. All das ist nur sehr ungefähr bekannt, stammt ja aus uralten Zeiten, als noch nichts aufgeschrieben wurde. Die Tempel, von denen wir die Reste sehen, sind aus sehr viel späterer Zeit. Gebaut haben sie die Ptolemäer, also die Nachfolger von Alexander in Ägypten. Den großen Rundtempel hat Arsenoi II gebaut, und ihr Mann, der zugleich ihr Bruder war, hat …“ – „Ihr Mann war ihr Bruder?“ – Ja, Dora. Das war so unter den Pharaonen üblich, und diese griechischen Herrscher übernahmen die Sitten und Gebräuche des Landes, das sie regierten.“ – „Und warum haben diese Leute hier Tempel gebaut?“ – Ich seufze. Soll ich das wirklich noch einmal erklären? Und wenn ich erzähle, es war wegen Alexander und seiner Empfängnis hier auf der Insel … was habe ich erklärt? Wer war Alexander? Ein Gott mit göttlichem Auftrag, wie er selbst und viele der Späteren meinten, oder doch eher ein Raufbold, der den Osten mit Krieg überzog? Und was verband seine Erben, die Ptolemäer, tatsächlich mit dieser sturmgepeitschten abgelegenen Insel?

Dunkel bleiben alle Erklärungen. Und was den spiritus loci anbetrifft: Der spricht sich für mich am deutlichsten aus in den Flechten auf den alten behauenen Steinen mit Vertiefungen, in denen sich Blätter und der Kot von Ziegen sammelt.

„Hauptsache, es macht Spaß!“ tönt Dora in meine Grübelei hinein. Nun, so kann man es natürlich auch sehen.

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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9 Antworten zu Dora zum ElftenNeunten: Im Tempelbezirk (Samothrake-Bericht 7 mit täglichem Zeichnen)

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Oh Deine Säulenzeichnung von 1984 ist unvergleichlich schön!

    Gefällt 3 Personen

  2. BabuschkaKunst schreibt:

    Sehr, sehr interessant und anregend, Deine „mythologischen Gespräche“ mit Dora! Vielen Dank für diese Bereicherung, liebe Gerda!

    Gefällt 2 Personen

  3. Ich glaube, auch heute noch hat der Ort seine tiefe Bedeutung nicht verloren. während ich Deinen Bericht drüber lese, fühle ich mich verbunden durch Dich mit diese weihevollen Stätte, die so lange schon besteht, daß man es sich kaum mehr vorstellen kann, liebe Gerda.
    Deine Säulen von damals sind erhaben über jeglichen Zweifel, sie tragen Deine damalige Stimmung bis ins Heute und das Foto bestätigt es mir.

    Gefällt 1 Person

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