Schwer fand ich es an jenem Tag, so schrieb ich, mit dem genius loci des Tempelbezirks Kontakt aufzunehmen. Da fiel mein müdes Auge auf ein Stück Erde, beschattet von einer Mauer, frisches Grün spross daraus hervor. Auf die Erde musste ich mich legen, und schlafen musste ich! Denn so erschöpft und von Gedanken geplagt, wie ich war, würde ich nie und nimmer verstehen, was ich hier zu finden hoffte.
„Und?“ fragt Dora, „hat es was gebracht?“ – „Ja, freilich, kleine Dora! Ich bin sofort eingeschlafen, und als ich aufwachte, war ich angekommen.“ – „Angekommen? bist du denn im Schlaf gereist?“ – „Vielleicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls war die Welt im Moment des Erwachens eine andere. Mir schien, dass alles, was zuvor falsch war, nun an seinen Platz gefallen war, und ich verstand.“ – „Was hast du verstanden, wenn ich fragen darf?“ – „Ach, Dora. Das ist so schwer zu beschreiben. Kennst du das: dass alles richtig und genau so ist wie es sein muss?“ – „Na klar kenne ich das! Ist das was Besonderes bei dir?“
Ich überlege, ob Dora und ich dasselbe meinen. Dora steht ja immer im Hier und Jetzt, ihr Zeit-Horizont geht nicht über den Moment hinaus. Und da ist eben immer alles, wie es sein muss. Keine Frage. es kann nicht anders sein, als es ist. Mir aber ist in diesem hellen Moment des Aufwachens, als sei auch die ganze grausame Menschheitsgeschichte seit Urzeiten kein sinnloses Stückwerk, sondern eine grandiose Entfaltung und Verwandlung vergleichbar der Pflanze, die aus dem Samen sich entwickelt und verwandelt bis zur höchsten Entfaltung in der Blüte, oder wie der Schmetterling, der nach so und so vielen Verwandlungen ans Licht tritt…. und ich schaue zu und bin zugleich Teil und Mitschöpfer dieser Entfaltung und Verwandlung.
Es beginnt irgendwie mit den fürchterlichen Beben und Vulkanausbrüchen, die das Inselgebirge aus dem Erdinneren hervorschleudern. Rundum nichts als das wilde Meer und Proteus, der „Erste“, der „Alte des Meeres“, der jede Form annehmen kann. Er ist Urvater der Kabiren und offenbar so etwas wie eine Stammzelle, die noch nicht definiert ist und alles werden kann. Unendlich sind die möglichen Entwickungsreihen, und die tatsächlich realisierten sind zahlreich wie Sand am Meer. Wieviele Mineralien, Pflanzenarten, Tiergestalten! Wieviele Gestirne jeder Art und Größenordnung! Und doch zieht Ordnung ins Chaos ein. Die schier unendlich vielen Einzelphänomene setzen sich teils feindlich, teils kooperativ zueinander in Beziehung, sie ordnen sich zu einem komplexen Ganzen, das uns mit großem Staunen erfüllen kann.
Und der Menschenkosmos? Wie ist es damit?
Da sitze ich nun zwischen Schlafen und Aufwachen auf dem steinigen Boden, den junges Grün wie ein sanfter Hauch bedeckt. Und fühle in mir, sehe es auch mit dem inneren Blick, wie die Geschichte der Menschheit – durch alle Zerstörungen und Verwandlungen hindurch und allen mörderischen Zusammenstößen zum Trotz – sich ebenfalls einem inneren Gesetz folgend entfaltet. Damit das geschieht, treten gelegentlich besondere Persönlichkeiten ans Licht. Alexander der Große ist so einer. Hier wurde er bei einer Heiligen Hochzeit gezeugt. Durch seine Taten – man mag sie moralisch beurteilen wie man will – wird Griechisch im gesamten östlichen Mittelmeer mit Ausstrahlungen nach Afrika und Asien zur Gemeinsprache, der Hellenismus zur herrschenden Kultur, das aristotelische Denken und damit die Anfänge des modernen naturwissenschaftlichen Denkens verbreiten sich. Die griechisch-sprachigen Herrscher Ägyptens, die das alte Wissen in der Bibliothek von Alexandria sammeln und behüten, bezeugen seine Bedeutung hier, am Ort, wo er gezeugt wurde, mit großen Tempelbauten….. Dreihundert Jahre später wird Rom das Erbe antreten und zugleich zerstören. Die Bibliothek von Alexandria geht in Flammen auf. Nicht Caesars Sohn, den er mit Kleopatra, der letzten Ptolemäerin, zeugte, sondern der adoptierte Oktavian, genannt Augustus (der Erhabene) wird das Erbe antreten und den Raum ordnen und unbewusst vorbereiten für den Auftritt eines noch größeren Umgestalters: Jesus wird in Bethlehem geboren. Von diesem Impuls setzt sich die Bewegung in wachsenden Kreisen fort und fort, ergreift den gesamten Erdball…
Voll erwacht, werden die spitzen Steine am Boden fühlbar. Schmerzhaft fällt mir ein, dass sich wieder einmal zwei sogenannte christliche Nationen ineinander verbissen haben und sich gegenseitig Tod und Verderben bringen. Auch die östliche Ägäis ist mal wieder gesteckt voll mit Flugzeugträgern, U-Booten und Fregatten, die herumkreuzen in Erwartung ihres Einsatzes. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, sagt der Epheser Heraklitos. Ist es so?
„Vielleicht wächst die Menschheit ja durch Krisen und Krieg schlussendlich zusammen, es sei denn, dass sie sich endgültig auslöscht“, murmele ich, mühsam aufstehend und mir den schmerzenden Rücken reibend.
Und hier noch ein paar Illustrationen des Gesagten (eigene Fotos)
a) Ost und West, Europa und Asien immer schon im Kampf gegeneinander
„Alexanderschlacht“. Mosaik, Pompeji, ca. 150–100 v. Chr., vermutlich nach einer Vorlage aus dem 4. Jahrhundert. Aufgenommen im Archäologischen Nationalmuseum Neapel, 2019.
b) Die Utopie des ewigen Friedens (Augustus‘ Neue Weltordnung)
Relief im Ara Pacis Augustae (Friedenstempel des Augustus) in Rom, aufgenommen im Juli 2022.
c) Christi Tod und Auferstehung: das Versprechen ewigen Lebens im himmlischen Jerusalem.
Auferstehungs-Fresko im Kloster Chora in Istanbul, aufgenommen vor etwa 25 Jahren
Sehr schöne Beschreibung des Ankommens.
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🙂
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„wie die Geschichte der Menschheit … sich ebenfalls einem inneren Gesetz folgend entfaltet.“
Was meinst Du damit?
Was ist das innere Gesetz, wie nennt es sich, was ist der Inhalt?
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Ich schreibe ja, dass es sich um eine Ahnung zwischen Schlafen und Aufwachen handelt, lieber Gerhard. Ich weiß nicht, wie es dir geht, ob du auch manchmal solche Momente hast, wo dir die Menschheitsgeschichte nicht wie eine wüste „Erzählung von Irren“ vorkommt („a tale told by an idiot, full of sound and fury signifying nothing“, Shakespeare, Macbeth), sondern wo du vor dir ein Bild hast, in dem sich die großen Linien der Geschichte trotz aller Schrecknisse zu etwas fügen, was man Sinn, Höherentwicklung oder meinetwegen auch „Fortschritt“ nennen könnte.
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Eine Höherentwicklung oder auch “Fortschritt” kann ich nicht erkennen. Obwohl dies ein alter Gedanke ist, wird er deswegen nicht wahr oder wahrer.
Nicht dass ich darüber erfreut wäre ..
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Auch du wirst sicher partiellen Fortschritt in manchen lebensbereichen (bei gleichzeitig sehr vielen negativen Entwicklungen) anerkennen. Wenn du nun die negativen Entwicklungen (wie hier im Satz) einklammerst, wirst du auf eine positive Bilanz kommen. 😉 Es gibt Stimmungen, wo es gelingt. Es gibt andere Stimmungen, wo alles schwarz und nach Welltuntergang aussieht. Und es gibt Stimmungen, wo man das Gefüh hat, dass sie Gutes und Schlechtes immer die Waage halten, weil sie zwei Seiten derselben Medaille sind. .
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