Sicher gibt es etliche unter euch, liebe Leserinnen und Leser, die ab und zu ein Stückchen des Welttheaters überfliegen und vielleicht sogar lesen. Aber wer das Geschehen auf der Bühne nicht kontinuierlich verfolgt, verliert leicht den Faden. Daher werde ich ab und an eine Zwischenbilanz einschalten, in der ich den Faden rot einfärbe.
Wie das Welttheater begann
Im Dezember 2022 begann ich mit dem „Welttheater“. Doch zunächst ahnte ich gar nicht, DASS ich es begann. Denn mir ging es zunächst nur darum, Dora durch einen Repräsentanten des Jahres 2023 zuersetzen. Zu diesem Zweck eröffnete ich eine Agentur für Kandidaten, bei der sich 17 Interessenten meldeten. Ihr, meine Leserinnen und Leser, stimmtet dann ab, wer den Job haben sollte. Die „Blinde Poetin“, noch namenlos, gewann den Preis des Publikums (hier die Auswertung). Dora, die ich, um sie nicht zu kränken, erst spät benachrichtigte, bemängelte freilich das Verfahren: eine schriftliche Bewerbung reiche keineswegs aus, um eine Kandidatur zu beurteilen. Sie bot sich an, die Bewerber zu interviewen, was sie dann mit großer Hingabe vom 2. bis 17. Dezember 2022 auch tat. Ihre Berichte machten mir die Figuren immer lebendiger. Was aber sollte ich mit dem Ergebnis anfangen?
Der Dezember war fast schon vorbei, da lachte mich Myriades „Vorhang“ (Impulswerkstatt) an: Eine Bühne! Sogleich erschien zwischen den zaghaft sich öffnenden Vorhängen die „blinde Dichterin“, die nun auch einen Namen trug: Domna (benannt nach einer blinden russischen Dichterin des 19. Jahrhundert). Und da sie eine Dichterin ist, bediente sie sich einer berühmten Dichtung als Rhythmusgeber für ihren ersten Auftritt.
Goethes „Zueignung“ (Beginn Faust I), auf die sie sich dabei bezieht, kennt ihr natürlich alle.
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.
Durch diesen Auftritt gab Domna nicht nur die gereimte Form vor, sondern drückte auch einen gewaltigen Anspruch aus: Sie wollte in einem dem „Faust“ vergleichbaren „Welttheater“ auftreten. Da saß ich nun in einer Falle.
Das Neue Jahr würde beginnen, und ich ängstigte mich: Unmöglich, dem Anspruch gerecht zu werden. In der Silvesternacht aber erschien, mich zu trösten, Dora. Sie dürfe, teilte sie mir mit, unsichtbar als meine Regieassistentin wirken. Chronos (Zeitgott) persönlich habe es ihr gestattet.
Am 2. Januar beginnen dann die Figuren, nach und nach auf der Bühne aufzumarschieren und sich, immer in gereimter Form, vorzustellen. Die ersten sieben sind:
Domna, die blinde Poetin
Trud, die Fragende (sie hieß zuerst Ungur)
Tschinn, der Macher
Yin und Yang, das Paar
Isolde, die Hedonie
Jerma, die Sowiedu
Hera, die Göttin
Am 3. Januar bekommen dann auch die übrigen zehn Figuren die Gelegenheit, sich vorzustellen. Um das Verfahren abzukürzen und mehr zu dramatisieren, geschieht dies in Form von , die sich ineinander verschränken.
Diaphania, die Transparenz. Sie beäugt und kritisiert
Schurigel, den Angstmacher, der alles andere als transparent ist.
Wilhelm, der Überlebenskünstler stellt sich als Schüler Schurigels vor
Danai, die Flüchtlingin, erbittet Hilfe von Wilhelm
Eine spaziergehende Familie mit Hund marschiert an Danai vorbei. Es sind Statisten,die unterstriechen, wie wenig die Normalbürger das Drama der am Rande Lebenden bemerken.
Clara, der Spielende Kind, versucht vergebens, mit dem Kind der spazierenden Familie Kontakt aufzunehmen
Jenny TheKid taucht auf. Clara spendiert ihr die Hälfte ihrer Banane.
Während die beiden essen und spielen, haben einen Kurzauftritt:
Jonas, der Weltraumforscher,
die Spirits Ma, Lu, Ro, Ho und Wa,
der neue Mensch Humunkulus
Hera, die Große Göttin des Matriarchats
Luise, das Traumwesen, erscheint als Letzte. Dann fällt der Vorhang.
Damit endet der erste Akt, der eigentlich kein Akt, sondern ein Einführung der Personen ist. Überhaupt ist die Einteilung in Akte und Szenen überholungsbedürftig. Ich kann nicht alles sorgfältig durchplanen, denn die Figuren haben mich überrumpelt. Sie drängen nach Leben, sie wollen auftreten! Am nächsten Tag ist es dann auch schon so weit.
Szenen 4.-11. Januar
Am 4. Januar beginnt dann das eigentliche Drama. Den Startimpuls liefert mir Christiane mit ihren Montagsgedichten, konkret Eichendorffs Wünschelrute.
Klar, eine Wünschelrute brauche ich, damit ich, die Ahnungslose, mich in den Strömungen der Zeit zurechtfinde. Die Leitfigur des Jahres, Domna, nimmt dieses Instrument in ihre Hände und wird fündig: „geben, gib“ sei das Zauberwort. Sie findet es, als sie in einem verwahrlosten städtischen Randbezirk ihre Runden dreht und auf Trud, Danai und schließlich auf die obdachlose Jugendliche Jenny trifft, die schon seit Tagen niemanden mehr gesehen hat und hungrig ist. Gebt mir ein bissel, es sei was es sei, sagt sie. Und als sich die vier schließlich rund um Truds X-Scherben setzen, der zum Erzähltisch wird, bereit zu teilen, was sie haben, verschwindet die traurige Vorstadtkulisse, und an ihre Stelle tritt ein sonniger Meeresstrand. Die „Bereitschaft zu teilen, was sie haben“ drücken sie in einem Wechselgesang aus. Die zuvor vereinzelten, vereinsamten undgegeneinander gleichgültigen Menschen sind zu einer Gemeinschaft geworden, die sich austauscht:
Ich erzähl euch eine Geschichte Und ich stelle Fragen
Ich rezitier euch Gedichte Ich weiß alte Sagen
Ich weiß was von Witzen Und ich, ich kann lachen
Komm her, bei uns sitzen Bring mit deine Sachen
Komm her, dich zu wärmen Bring mit deinen Kummer
Wer wird sich denn härmen? Ich sing dich in Schlummer.
Am 5. Januar erzählt Danai die Geschichte ihrer Ahnen, der Danaiden.
Am 6. Januar tauschen sich die vier über diesen alten Mythos aus
Am 6. Januar, im östlichen Christentum als „Epiphanie“ und „Segnung der Gewässer“ gefeiert, hat Hera ihren Auftritt, um die Interpretation des Danaiden-Mythos zurechtzurücken: Die Danaiden seien Mondpriesterinnen, zuständig für die Bewässerung der Erde. Anstatt sie zu verleumden und zu verfluchen, sollte man sie segnen.
Am 7. Januar schließt sich eine Erörterung von Heras Ansichten an. Die Frauen haben höchst unterschiedliche Meinungen zum Thema „Frau“ und „dienen“.
Am 8. Januar kommen sich Domna und Danai näher. Danai ist keine hilflose Bittstellerin mehr, sondern den anderen gleichwertig.
In der nächsten Szene (immer noch 8. Januar) kommt erneut Hera dazu, in Begleitung der Spirits. Die unterschiedliche Haltung der Frauen zu spirituellen Fragen wird deutlich: Für Danai ist das Göttliche in allen seinen Erscheinungen etwas ganz Selbstverständliches, für Jenny existiert es nicht. Die Härten des Lebens haben sie gelehrt, sich an die „Tatsachen“ zu halten. Ihr „inneres Kind“ ist stumm geworden. Danai erinnert sich an ihr totes Kind, das nun als Clara, das „spielende Kind“ auf der Bühne erscheint.
Am 9. Januar greift Schurigel, der Angstmacher, ein. Jennys erklärter Unglauben an alles Göttliche ist für ihn das Eingangstor. Nun versucht er, auch Clara entsprechend zu erziehen. Es geht darum, dem kleinen Kind seinen Glaube an „gute Geister“ auszutreiben , um an seine Stelle sogleich den Glauben an „böse Geisterr“ zu setzen. Gottvertrauen gibt dem Kind Kraft, Angst macht es gefügig.
Am 10. Januar folgt wieder eine Erörterung: Clara behauptet, sich vor Monstern nicht zu fürchten. Jenny schickt den Angstmacher zum Teufel, an den sie anscheinend doch irgendwie glaubt. Schurigel zieht beleidigt ab, eine etwas verdüsterte Kulisse hinterlassend.
In der nächsten Szene (imm noch 10.1.) gibt das aufziehende Gewitter Gelegenheit, der Frage der Angst vor Naturgewalten nachzugehen. Danai lädt die Versammelten in ihre „Höhle“ ein. (Danai ist zwar ein Flüchtling, aber sie ist zugleich eine Nachfahrin der Danaiden, die in eben dieser Gegend wirkten. Sie kennt die Gegend daher besser als alle anderen).
Am 11. Januar – nun in der Höhle – betten die Frauen das müde Kind, und Luise, das Traumwesen, erscheint über ihr. Clara träumt vom Blauen Wal (Luftschiff), in dem der Weltraumforscher Jonas und Dora sitzen. Dora lässt ihre Geschenkbox zu Clara herabfallen, mit den besten Wünschen für eine glückliche Zukunft.
Der Morgen im Gebirge (noch 11. Januar) zeigt die Frauen in ihren unterschiedlichen Einstellungen zum Leben. Für Jenny ist die Beschaffung eines Frühstücks vordringlich
In der Folge (immer noch 11. Januar) konkretisieren sich diese Einstellungen weiter: wie reagieren die Individuen auf die Tatsache, dass sie sich ohne Nahrung im Gebirge befinden?
Clara glaubt an die Magie der Dinge. Die werden ihr schon das Gewünschte verschaffen.
Jennys Überlebensstrategie ist ausgefuchster: Beschwätzen, Sachen „besorgen“, Warentausch sollen sie in den Besitz des Gewünschten bringen.
Danai kennt sich in der Natur aus, sie kann sich von Pflanzen ernähren, und teilt ihr Wissen gern.
Trud hat leider keine Ahnung,´. Die wer, wie, was, wo und warum – Fragen, die sie ständig im Munde führt, hindert sie, Antworten zu befreifen und zu akzeptieren, denn sie muss auch diese hinterfragen.
Domna lebt im Reich der Poesie. Sie ist blind für die sogenannten „harten Realitäten“, aber versteht sehr wohl den Kummer des Kindes, das sie zu trösten sucht.
So, da sind wir in der Gegenwart angekommen. Wilhelm, Überlebenskünstler oder neudeutsch auch Prepper, erscheint am Berghang. Jenny schnappt sich Claras Dora-Geschenkbox und steigt zu ihm hoch, um mit ihm ein Geschäft zu besprechen, an dessen Ende hoffentlich ein reichhaltiges Frühstück steht.
Danke, war selbst ein bisschen fadenarm …
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hihi. Klingt ein bisschen nach Fadenwürmern, die ich dir nicht wünsche. Dann schon lieber Fadennudeln, im Falle einer Erkrankung sehr zu empfehlen, als Suppe mit Öl und Butter. Bleiben noch fadenscheinig, da beißt die Maus keinen Faden ab … und Ariadne.
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Die Eingangsworte von Domna beeindrucken mich.
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Das freut mich sehr, liebe Gisela. Es ist sozusagen das Motto, dass über diesem Jahr und dem Welttheater stehen soll. Denn nur dann kann Frieden herrschen. wennn jeder auch entgegengesetzte Ansichten respektvoll behandelt. Tut man es nicht, lässt man nur das Eigene gelten, ist Krieg die Folge.
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Domnas dichterische Worte haben ihre eigene Schwingung, sind freilassend. Und ich nahm sie frei -in meiner Art – auf
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Ja, Domna ist eben eine Dichterin, im Gegensatz zu mir, die immer alles auf den Punkt bringen will. :)-
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Danke, Gerda.😊🖐️
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😂
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Bring mit deinen Kummer
Ich sing dich in Schlummer
Zwei Zeilen habe ich mir herausgepickt, weil ich sie so wundervoll finde, Gerda!
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Danke dir, Bruni. 🙂 Ja, das sind so Zeilen, die einem durch die Sprache selbst zufallen. Das liebe ich am Reimen.
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Ein wirklich tolles Projekt … auch wenn ich noch einiges nachlesen muss. Ich mag es sehr!!
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Danke dir sehr, Alexander. Für mich ist es grad fast wie Platten in der juke-box spielen lassen,ohne die Titel zu kennen. Nichts ist wirklich planbar. Ich entwickele Bilder für die nächste Szene – und plötzlich nimmt die Handlung eine andere Wendung. Die Impulse kommen von außen (Wetter, Tageszeit, Weltereignisse, Blogs) und von innen (Stimmung, Träume), vom archivierten Bildmaterial, aus dem ich die Kulissen mache, von den Reimen, die sich finden lassen oder eben auch nicht…. „Alles ist im Fluss“, sogar die Charaktere, die ja eigentlich Typen sind, aber sich, je nachdem wie man sie und in welchem Kontext man sie betrachtet, helle und dunkle Seiten aufweisen.- All das ist für mich herausfordernd und beglückend.
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