Tagebuch der Lustbarkeiten: Ausstellungssbesuch 1 (Martin Margiela bei Bernier-Eliades, Athen)

Gestern. Die feine kleine Galerie Bernier/Eliades befindet sich in einer stillen Straße am U-Bahnhof Theseion. Schon wegen ihrer idyllischen Lage suche ich sie möglichst bei all meinen Athen-Besuchen auf. Der Hauptgrund ist freilich, dass man dort Einzelausstellungen internationaler zeitgenössischer Künstler zu sehen bekommt. Das ist für Athen durchaus keine Selbstverständlichkeit. Denn wir haben zwar seit der Documenta 14 (2017) ein prächtiges Museum für Zeitgenössische Kunst in einem Riesenbau (ehemals Bierfabrik Fix), aber das letzte Mal, dass ich dort war, fand ich es inhaltlich so enttäuschend, dass ich bei meiner sehr begrenzten Zeit keinen Anlauf riskieren wollte. 

Ein kleines Schild mit dem Namen des ausstellenden belgischen Künstlers (Martin Margiela), ein messingner Klingelknopf, den ich drücke, und die schwere Sicherheitstür öffnet sich schnurrend. Im stillen Raum begrüßen mich schwarze und weiße Torsen auf hohen Stelen.

Merkwürdige Torsen sind das. Leicht irritiert betrachte ich sie. Sie wirken körperlich, aber zugleich unbestimmt zerfließend, als wüssten sie nicht so recht, was sie werden wollen oder einmal gewesen sind. Trans-Übergangsgeschöpfe vom hier zum dort, mit frei wandernden Organen. Der weiße lässt sich einigermaßen fotografieren.

Mir fällt eine Szene aus Faust II ein (Klassische Walpurgisnacht): Proteus – der ständig seine Gestalt wandelnde Gott – und Homunculus, der im Reagenzglas steckt und noch keine feste Form gefunden hat*. Max Beckmann hat sie illustriert (Quelle: Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethemuseum)

Klassische Walpurgisnacht. 2. Akt: Proteus: Komm geistig mit in feuchte Weite (Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum RR-F)

In einer Vitrine gegenüber erblicke ich vier Kugeln, die … ja, was? Sie haben Haare und einen Mittelscheitel. Rechts prangt eine große dunkelhaarige, und je weiter der Blick nach links wandert, desto mickriger wird die Kugel, und das Haar färbt sich langsam eisengrau.

Eine Allegorie auf das Altern, so will mir scheinen (merkwürdigerweise in umgekehrter Leserichtung von rechts nach links). Man kennt das ja: wie sich im braunen Haar rund um den Scheitel die Farbe zurückzieht, zumal wenn das Braun nicht ganz echt ist und das Grau nachwächst. Dann heißt es für so manche: Schnell zum Figaro!

Allegorie hin oder her: irritierend makaber finde ich diese behaarten Kugeln mit den Mittelscheiteln.

Im nächsten Raum bleibe ich vor Treppen stehen, die aus rotem Filz gefertigt zweidimensional an der Wand lehnen. Sie wirken, als seien sie noch nicht ganz fertig, denn Spannfäden hängen unordentlich aus dem Gewebe.

Es gibt auch weniger würdevolle Treppen, zum Beispiel solche aus grauem strapazierfähigem Filz…

oder auch solche mit vorsorglich aufgeklebten Signalkanten, damit man beim Runtergehen nicht stolpert.

Die roten sind wohl für die Chefetage, die grauen für die niederen Angestellten und die mit den gelbschwarzen Kanten für die Lieferanten.

Was noch? An einer Wand hängen zahlreiche Plexiglaskästen mit eleganten Schuhen, die bei genauerem Hinschauen keine sind, sondern nichts als Gelumpe und Möchtegern.

und ein Eisengestell an der Wand – unklar zu welchem Behufe – will dem Betrachter suggerieren, ihm sei ein Fell gewachsen.

So ahmt die Kunst nun nicht mehr wie in alten Tagen die Natur nach, sondern unsere zivilisatorischen Errungenschaften, bei denen ja oft genug unklar bleibt, was sie sind und was sie zu sein scheinen. Fake eben.

Mit solche Gedanken trete ich hinaus ins gleißende Mittagslicht und wandere etwas erschöpft zurück zur U-Bahn. Zu mir herunter grüßt die Kulisse der Akropolis, und ich frage sie: bist du, was du scheinst? Eine Antwort gibt sie mir nicht. Über so was wie mich mit meinen komischen Fragen ist sie erhaben.


J.W.Goethe, Faust II, Klassische Walpurgisnacht.

(….)

Thales
Wo bist du, Proteus? –

Proteus
Hier! und hier!

(….)

Thales
Gestalt zu wechseln, bleibt noch deine Lust.

Proteus
Ein leuchtend Zwerglein! Niemals noch gesehn!

Thales
Es fragt um Rat und möchte gern entstehn.
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.
Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,
Doch wär‘ er gern zunächst verkörperlicht.

Proteus
Du bist ein wahrer Jungfernsohn,
Eh‘ du sein solltest, bist du schon!

Thales
Auch scheint es mir von andrer Seite kritisch:
Er ist, mich dünkt, hermaphroditisch.

Proteus
Da muß es desto eher glücken;
So wie er anlangt, wird sich’s schicken.

(….)

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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25 Antworten zu Tagebuch der Lustbarkeiten: Ausstellungssbesuch 1 (Martin Margiela bei Bernier-Eliades, Athen)

    • gkazakou schreibt:

      So schnell hast du alles gelesen und durchdacht, und hast schon ein Urteil fertig?

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      • bonanzamargot schreibt:

        stimmt, manchmal bin ich schnell. darum aber auch nur „na ja“.

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      • gkazakou schreibt:

        Schnell im Urteilen zu sein, bedeutet auch, sich auf dem eingeschliffenen Weg des Gefühls wohlzufühlen und die Gedankenarbeit zu vermeiden. Es ist der einfache Weg. Die meisten gehen ihn, wenn es um Kunst geht. Dann sagen sie: das gefällt mir, das lässt mich kalt. Geschmackssache. Natürlich reagiere ich auch so – manches gefällt mir, anderes nicht. Aber dann bleibe ich doch stehen, auch beim Nicht-Gefallenden, und plötzlich sehe ich Dinge, die ich zuvor nicht sah. Das wirkt dann nach.

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      • bonanzamargot schreibt:

        als faultier bin ich natürlich auch faul im denken.
        es kommt vor, dass ich mein urteil über ein kunstwerk ändere– bei menschen geht es mir ähnlich. meist stellt sich aber der erste eindruck als der richtige heraus – so meine erfahrung.

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  1. Ich kann mit dieser Kunst nichts anfangen, aber muss ich ja auch nicht!
    Natürlich könnte man auch Scheiße in Büchsen mit hoch intellektuellem Kunst Statement kommentieren, manche Kunst ist eben VIELLEICHT nur für einen bestimmten Personen Kreis sinnig!
    Boh, bin ich heute auf Krawall gebürstet, ODER? NEIN garnicht, denn es gilt letztendlich immer im Auge des Betrachters!
    Ich lasse mich auch gerne in die hohe Kunst des Kunst Verstehens mitnehmen!
    Die Verbindung mit dem altern darin zu sehen, finde ich noch naheliegend! Es scheint mir aber zu eindeutig, finde da den subtilen Weg interessanter!

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    • gkazakou schreibt:

      Ich lache, liebe Babsi. Es kommt eben drauf an, was man in der Kunst sucht. Und das ist eben nicht nur das Ästhetische, dass es gefällt. Es ist auch der Anstoß zum Nachdenken. Ob die Sch… das vermag, will ich mal dahingestellt sein lassen. Versucht wurde das ja auch. Und sonst noch allerlei. Die pure Provokation ist ausgelutscht. Hier aber handelt es sich um technisch sehr ausgereifte Arbeiten, das ist nicht hingepfuscht. Dennoch verstehe ich schon, dass dir das total egal ist, wenn dir das Ergebnis keine Freude macht.

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  2. Lopadistory schreibt:

    Schön, dass Du mich mitgenommen hast, so weiß ich, dass ich nichts versäume😉

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  3. Gisela Benseler schreibt:

    Lauter unbeantwortete Fragen. Aber ging es denn um Sinnsuche?

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  4. Myriade schreibt:

    Ich finde die Torsi recht interessant. Natürlich muss man solche Skulpturen dreidimensional sehen damit sie richtig zur Geltung kommen, aber auch so gewinnt man einen Eindruck. Mit den Treppen kann ich nichts anfangen, aber die Köpfe liegen bei mir irgendwo zwischen irritierend und inspirierend …

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  5. Ulli schreibt:

    Die Torsi hätte ich gerne von allen Seiten gesehen, natürlich auch die schwarzen, aber nun, du schreibst ja, dass sie sich schlecht fotografieren ließen – mir gefällt die ‚Abkürzung‘ bei ihnen, die mich einladen die Körper weiter oder fertig zu denken. Dein Zitat passt da doch recht gut, so will mir scheinen.

    Die Köpfe, wenn es denn Köpfe sind, es ist ja deine Interpretation, gefallen mir auch, sie haben etwas Spielerisches, mit den Treppen und dem Felldings kann ich nix anfangen, muss ich aber auch nicht.

    Danke, dass du uns mitgenommen, und deine Eindrücke geschildert hast.

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    • gkazakou schreibt:

      Danke dir, Ulli! Ja, die Torsi hätte ich sogar gern mit den Händen betastet, um ihren fließenden Formen nachzugehen. Du sprichts von „Abkürzungen“, das finde ich einen interessanten Gesichtspunkt. Auf jeden Fall wirken sie unfertig, aber nicht im schlechten Sinne, sondern weil sie das sich Wandelnde zeigen, auch im Geschlechtlichen (Trans). Und ich muss sagen: ich finde es erstaunlich, dass man diesen Eindruck mit solchem starren Material überhaupt herstellen kann. Bei den Treppen fand ich ebenfalls das Unfertige anregend, man weiß nicht, ist es noch nicht fertig oder schon im Zerfallen. Kurzum, wenn Ikonomou die Seele anrührt, so dieser Belgier das Denken und auch das Taktile. (Auch die behaarten Kugeln hätte ich gern angefasst).

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  6. anneeulia schreibt:

    Die Köpfe interessant irgendwie, ich stehe ja eh auf so skurrile Dinge.
    Ich finde die Treppen interessant. Erinnert an diesen Künstler mit den Treppen. M. C. Escher ich mag es wenn man was sieht was so aussieht als könnte man drauf steigen.

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  7. Die Torsi finde ich ganz wundervoll. Die Formen, nur scheinbar unfertig, ohne Ecken und Kanten.

    Rund und in sich ruhrend liegen sie da, ganz in sich selbst versunken. Bei der weißen erkenne ich einen sachte angedeuteten Kopf, kaum erkennbar und in vollkommener Harmonie mit dem in sich verschlungenen übringen Teil eines Körpers.
    Wie menschliche Knoten, die natürlich ohne ihre üblichen Ecken und Kanten auskommen *lächel*

    Auch die Kugeln, die das Altern andeuten (die umgekehrte Reihenfolge bemerkte ich auch u. wunderte mich ein bissel darüber) finde ich sehr originell.

    Angefaßt hätte ich gerne alle Exponate 🙂

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    • gkazakou schreibt:

      Ich freue mich sehr, liebe Bruni, dass ich deinen schönen Kommi im Spam fand und befreien konnte. Wie gut du dich hineinfühlst in die Kunst, selbst wenn sie nicht ganz leicht eingängig ist! Ich muss sagen, dass ich diese Gebilde immer noch vor meinen Augen habe, sie haben mich sehr beschäftigt, und das passiert mir durchaus nicht oft bei zeitgenössischer Kunst. Vielleicht ist es auch gut, dass ich wegen meiner langen Aufenthalte in der Mani so wenig zu sehen bekomme, da bin ich dann in Athen ausgehungert und aufnahmefähiger.

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  8. Achtung, Achtung, Kommi im spam!

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  9. Es ist seltsam, aber ich habe diese rundlich verschlungenen skulpturen auch immer noch vor Augen, gerda❣️

    Da Du nicht täglich im Museum sein kannst, siehst Du viel mehr als andere, die zwar immerzu, aber nur flüchtig vorbeischauen

    !

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