Luise und Artemis

Viel ist in letzter Zeit die Rede von der Frauenrolle im Islam. Heute las ich hier von einer als Buch erschienenen Übersetzung: die Frauen des Dschihad, einer Propagandaschrift von IS. Und stellte mal wieder fest, wie kurz das historische Gedächtnis gewöhnlich ist. Denn das Schreckliche, was dort geschildert und in den Kommentaren angeprangert wird, ist ja der Kern, um den sich in Jahrhunderten die Schale aller religiösen Dogmen bildete. (Das Christentum macht da keine Ausnahme. Nur Jesus stand anders zu den Frauen, nicht seine Adepten.).

Der Kern der religiösen Dogmen ist, auf einen Nenner gebracht, die Verkrüppelung der Frau. Oder, weniger hart formuliert: die Gefügigmachung der Frau. Wird sie garantiert, werden auch die Dogmen geschluckt.

In meiner Geschichte „Luise“ hier und hier und hier und hier habe ich eine Frau beschrieben, die sich nicht gefügig machen ließ und ermordet wurde. In meinen Augen vertritt sie einen Typ, den ich „Artemis“ nenne. (Luises Lebensgeschichte möchte ich ein anderes Mal ausspinnen. )

Wer war  Artemis ?

Eine der Olympischen Zwölf, Zwillingsschwester von Apoll,  die mit den Tieren und dem Bogen, Jungfrau und Jägerin….

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Vravron, Heiligtum der Artemis

In Vravron (Brauron) in Attika unterstand ihr ein Pensionat für Mädchen und Knaben, in dem diese geschützt vor männlichen Übergriffen aufwachsen konnten, auch schwangere Frauen fanden hier Zuflucht, und totgeborene Kinder wurden hier bestattet. Die Menschen ehrten und liebten sie und brachten ihr Opfergaben.

Auch Iphigenia fand hier ihre letzte Ruhestätte.

Iphigenie, Grab Vravron

Iphigenias Grab in Vravron (Brauron)

Iphigenia war die älteste Tochter von Klythaimnestra und nach dem noch geltenden Mutterrecht die Erbin von Mykene. Ihr Vater Agamemnon opferte sie in Aulis, unweit des Artemistempels, damit die Achäer in den Krieg gegen Troja ziehen konnten. Mit der Ermordung von Iphigenia durch den Vater, dann auch Klythaimnestras durch den Sohn (Orest), und mit der Legitimierung dieser Morde durch den Areopag und die Dichter der klassischen Zeit (Sophokles) endet faktisch das Mutterrecht. An seine Stelle tritt das Vaterrecht, das sich fast überall auf der Welt durchgesetzt hat.

Vieles ließe sich erzählen über die große Göttin Artemis. Doch will ich mich hier auf einen Charakterzug beschränken, der in Sparta verehrt wurde:

Dort stand ein hölzernes Bild von Artemis Orthia: die aufrecht Stehende. Ορθός – ihr kennt das Wort aus Zusammensetzungen wie Orthographie (Rechtschreibung), Orthodoxie (der rechte Glauben) heißt : aufrecht, gerade, richtig, recht.

Diese ORTHIA verkörpert, so meine ich, die Aufrichtekraft der Frau. Ihr Rückgrat wurde, wenn sie, schon als Kind verheiratet, rechtlos, demütig, ein Gegenstand des Mannes war, angepasst, willig, gebeugt. War sie nicht gefügig, wurde sie verstoßen, ins Kloster gesperrt, als Hexe verbrannt, oder im Sand vergraben und gesteinigt.

Und doch ist sie unzerstörbar. Das ist Artemis in ihr. In allen Frauen. In uns allen.

Die aufrechte Haltung – gepaart mit Fürsorge, Milde, Freundlichkeit gegenüber den Kleinen und den Tieren -, das ist es, was Artemis in uns bewirkt, wenn wir sie und uns selbst in ihr ehren.

Vravrona Plakat

 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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18 Antworten zu Luise und Artemis

  1. Achim Spengler schreibt:

    Gute, starke Worte zu dem Bild der Frau. Das Bild verlangt nach Verbreitung, nach Verwirklichung. Weil die Welt ohne das real gewordene Bild nicht überleben wird.

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  2. Katrin - musikhai schreibt:

    Ich bewudere dein Wissen um die griechischen Götter, die Geschichte, dass du diese Querverbindungen erkennst! Ich lerne immer wieder viel durch deine Beiträge! Danke dafür! ❤

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  3. Scherbensammlerin schreibt:

    Das ist eine mutmachende Antwort im Zusammenhang mit der erwähnten Propagandaschrift. Danke für diese Öffnung zu den Göttinnen. Es ist gut, sie und ihre Haltung ein wenig im Blick zu behalten…

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    • gkazakou schreibt:

      Durchaus, Scherbensammlerin. Die Göttinnen, das hast du schön gesagt. Manche nennen sie Archetypen. Das sind die Göttinnen (und Gätter), die in unser kollektives Unterbewusstsein eingezogen sind.

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  4. Martina Ramsauer schreibt:

    Jakob Bachofen meinte doch in seinem Buch zum Mutterrecht, dass das Maennlich-Geistige ueber das Weibliche hinausgehe!

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    • gkazakou schreibt:

      Mag sein. Was meinst du, Martina?

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      • Martina Ramsauer schreibt:

        Ich meine, dass die Männer trotz ihrer angeblichen geistigen Überlegenheit der Frauen gegenüber, diesen wirklich nicht immer gerecht geworden sind. Lieben Gruss

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      • gkazakou schreibt:

        Die Überlegenheit ist eben nur angeblich 😉 Das ganze Gerede von Überlegenheit ist ja ein Witz. Es kommt auf den einzelnen Menschen an – wie bei allen Kollektiven. Früher sagte man zB, die Afrikaner sind primitiv usw und behandelte sie entsprechend. Manche versuchen das auch noch heute noch, bekanntlich.

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  5. Ulli schreibt:

    Mir gefällt die Symbolik der Artemis sehr! Kennst du das Gefühl in der Wirbelsäule, wenn sie sich plötzlich wieder ein Stück streckt? Ich nenne es Aufrichtung … Aufrichtung als Frau in einer Männer dominierten Welt-
    Heide Göttner-Abendroth hat hierzu ein tolles Buch geschrieben, Inanna, Inanna ist noch älter als Artemis, aber leider wurde auch sie entthront- irgendwo in meinem Blog gibt es eine Besprechung dazu, es müsste reichen den Namen in die Suchmaschine einzugen
    herzliche Grüsse
    Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      Ich schau mal. Das mit der Wirbelsäule kenne ich 🙂 Deine Besprechung suche ich gleich mal.
      Ob Inanna älter ist, wüsste ich nicht zu sagen. Götter und Göttinnen haben kein Alter, sie sind immer (wie ich in meinem früheren Beitrag „Artemis“ zu zeigen versuche). Wie wir, nur in anderer Gestalt und unter anderem Namen. Ich schicke dir einen dicken Sonnenstrahl. Gerda

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      • Ulli schreibt:

        ein richtiger Gedanke, liebe Gerda, mit älter meinte ich, dass die Mythologien vor den griechischen entstanden … aber wer weiss das alles schon so ganz genau? Ich nicht!
        herzlichst
        Ulli
        dein Sonnenstrahl kam heute zum richtigen Zeitpunkt in Freiburg an, wo wir einen alten Freund beisetzten, es regnete vorher und nachher, währenddessen war sogar ein kleines blaues Himmelsstück zu sehen und die Vögel sangen, sehr speziell, danke für den Strahl!

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  6. gkazakou schreibt:

    so sei getröstet. Liebe Grüße von Gerda

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  7. gann uma schreibt:

    Das passt zu meiner Fokussierung auf „Haltung“, die ich seit ein paar Wochen versuche, aber noch nicht so ganz passt. Ich nehme es als Omen.
    Ich wünsche dir schöne Feiertage.

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  8. Pingback: Beim Artemis-Heiligtum von Vravron | GERDA KAZAKOU

  9. www.wortbehagen.de schreibt:

    Die Frau, die Aufrechte, die Jägerin, Hegerin, die Heilerin, die Mutter und Göttin, Artemis.
    Ja, sie wurde niedergemacht, in den Staub gedrückt, ihre Leistungen nicht anerkannt in der Männer domierenden Christenheit, obwohl Jesus sie anders sah. Ich habe vor Jahren Mirjam von Luise Rinser gelesen und so gut erkannt, wie und was Du meinst., liebe Gerda. Er wußte um ihren Wert und ihre Gaben, aber er mußte sterben und mit ihm starb sofort auch der Glaube der Männer an die Frauen.
    Wie lange dauerte es doch, bis sie sich einigermaßen durchsetzte und zeigen konnte, daß sie mindestens gleichwertig ist … Hätte es nicht so viele mutige Frauen gegeben, wäre es heute noch nicht so. http://wortbehagen.de/index.php/gedichte/2018/oktober/gemeinsamkeit

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  10. Pingback: Zeichnen im Museum von Vrauvron | GERDA KAZAKOU

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