Geschichtengenerator in Aktion
Die heutigen Wörter* sind:
Luise, ältere Dame mit Hut
Schulhof
Ich habe dich nicht erkannt.
*Atelier, Bahnhof stammen aus dem vorigen Generator.
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„Du kennst sie, jedenfalls hast du sie gekannt“– sagte Nina, als das erste Bier, frisch gezapft, zwischen uns auf der Theke stand. „Luise heißt sie, ist drei Jahre älter als ich“.
„Luise?“ Keine Erinnerung wollte sich einstellen. Ich hatte Nina kurz zuvor in Begleitung einer Frau gesehen, die mir vage bekannt vorkam. Die beiden schienen ein Herz und eine Seele zu sein. Untergehakt gingen sie auf dem Bürgersteig grad vor mir, die dicke Nina und eine hoch gewachsene ältere Dame mit Hut. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie weder mich noch sonst jemanden bemerkten und die Passanten auf den Fahrdamm ausweichen mussten, wenn sie vorbei wollten. Ich bummelte hinter ihnen her. Vor dem Hotel Apoll – einem drittklassigen Etablissement in der Nähe vom Bahnhof – blieben sie stehen, redeten, lachten, umarmten sich, küssten sich und verursachten einen nicht unerheblichen Stau im Fußgängerstrom.
Schließlich ging die ältere Dame ins Hotel, und Nina setzte ihren Weg fort, ihren schweren Körper zur Eile antreibend, um rechtzeitig ihre Kneipe aufzumachen. Ich folgte ihr auf dem Fuß, und, da ich von Natur aus neugierig bin, befragte ich sie stantepe nach ihrer Bekannten.
„Ich war zwölf, als ich sie das erste Mal sah“, begann Nina bereitwillig. „Das war auf dem Schulhof. Ein paar Jungs standen um ein schlaksiges Mädchen herum, ich hörte Geschrei und Gelächter. Da ich damals noch recht klein war, konnte ich nicht sehen, was passierte, aber ich hatte ein ungutes Gefühl, also schlich ich mich näher heran. Das Geschrei nahm zu, und plötzlich fing die ganze Gruppe an zu schwanken und zu trudeln. Immer lauter grölten die Jungs, und nun verstand ich auch, was sie riefen: Hei hupps Hei hupps gebt der Schlampe einen Schubs! Und sie schubsten die Lange zwischen sich hin und her, als wär’s ein Boxsack.
So richtig sah ich Luise zum ersten Mal, als die Jungs endlich von ihr abließen und sie bleich, zerzaust und mit Tränen der Wut in den Augen ihren Ranzen über eine Schulter warf und Richtung Schultor ging. Ja, sie ging. Sie rannte nicht. Später kapierte ich, dass sie nie und nimmer vor jemand oder etwas wegrennen würde. Nein. Ich liebte sie. Sie war eine Außenseiterin, eine Abenteurerin, eine Stolze.
Ich selbst war ziemlich gewöhnlich, glaube ich, bis ich sie kennenlernte. Eine gute Schülerin, brav. Ich lernte die Gedichte auswendig, die wir auswendig lernen sollten, und wusste die Antworten im Matheunterricht. Zu Hause wurde zu festen Zeiten gegessen, am Nachmittag hatte Ruhe zu herrschen, und gegen fünf übte meine ältere Schwester Klavier. So kleinbürgerliche Routinen halt. Bis Luise bei uns einzog.“
„Wie bitte?“ fragte ich nicht wenig überrascht. „Diese Frau hat bei euch gewohnt? Du hast mir in all den Jahren, wo wir uns kennen, nie von ihr erzählt, Nina!“
„Nun ja, eine Frau war sie ja damals noch nicht, sondern ein aufgeschossenes Mädchen. Ihre Eltern hatten sich getrennt, lebten beide in Hamburg, ihre Schwestern waren älter und irgendwie schon selbständig, glaub ich, genau weiß ich es nicht. Luise wollte nichts davon wissen, bei der Mutter, dem Vater oder einer ihrer älteren Schwestern zu wohnen. Sie zog es vor, allein in dem alten Haus zu bleiben, in dem sie all die Jahre gelebt hatte, bevor die Familie auseinander fiel. Es war ein schönes Haus, ein bisschen heruntergekommen, richtig romantisch. Wilde Rosen rankten um den ehemaligen Geräteschuppen, den Luise sich als Atelier zurechtgemacht hatte.“
„Wie bitte?“ fragte ich blöd, als hätte ich auf meinen Ohren gesessen. „Luise hatte ein Atelier? Dann war sie …“
„Es gab auch etliche Katzen in dem Haus“, fuhr Nina unbeeindruckt fort. „Außerdem sammelte Luise streunende Hunde ein und gab ihnen ein Zuhause. Als ich sie kennenlernte, hatte sie den Harry, eine urkomische Kreuzung zwischen Bulldogge und Schnauzer, und Lasley, einen Pinscher, der grässlich kläffen konnte und dies auch ausgiebig tat, sobald sich jemand dem Haus näherte. Luise war sehr zufrieden mit ihrem Leben. Männer, sagte sie, sind Tiere, aber die richtigen Tiere sind voll in Ordnung. Ich staunte, denn von Männern wusste ich nichts, sie aber offenbar recht viel. Dabei war sie erst fünfzehn. Ihre Mutter machte sich Sorgen. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob sie sich wegen Luise Sorgen machte, oder ob sie einfach Angst hatte, dass man sie wegen Kindesvernachlässigung verklagen würde, wenn irgendwas passierte. Und so kam sie halt zu uns in Pension.“
Ihr müsst nun nicht denken, dass Nina diese Geschichte in einem Zug und genau so erzählte, wie ich sie hier wiedergebe, denn inzwischen kamen weitere Gäste, die bedient werden wollten. Als ich merkte, dass ich bei dem Tempo, mit dem Nina mit ihren Informationen rausrückte, bis zum nächsten Morgen an ihrer Theke sitzen würde, fragte ich unvermittelt: „Und woher kenne ich sie? Du sagtest, ich hätte sie früher gekannt!“
„Schon vergessen, Herr Künstler?“ fragte sie schnippisch zurück. „Wer war denn dein erstes Modell in der Kunsthochschule? Denk mal nach, versuch dich zu erinnern! Ah, ich verstehe! Ihr habt alle ihre Rippen, ihren Hintern und ihren Hüftknochen studiert, aber gefragt, wie sie heißt, habt ihr sie nicht.“
Damit wandte sie sich den anderen Gästen an der Theke zu. Ich nahm beschämt meinen Hut und ging. Ging bis zum Hotel Apoll, zögerte, ging noch ein paar Schritte weiter bis zu einem Blumengeschäft. Dort ließ ich einen bunten Strauß zusammenstecken (nicht zu teuer), ließ auch meine Karte dran befestigen und steuerte erneut das Hotel an. Drinnen fand ich in einer dunklen Klause den Portier, den ich ansprach. „Vor circa einer Stunde ist eine ältere Dame mit Hut bei Ihnen abgestiegen. Luise heißt sie, leider weiß ich ihren Nachnamen nicht. Schicken Sie ihr bitte diesen Strauß aufs Zimmer“.
Ich war mit mir zufrieden. Sie würde meinen Namen lesen und keine Ahnung haben, wer ihr die Blumen geschickt hatte. Wir waren füreinander zwei Namenlose: ein Kunststudent und ein Modell. Vielleicht würde sie mich anrufen und fragen, wer ich sei. Und dann würde ich auch den Rest ihrer Geschichte erfahren. Und sie die meine.
Ps. Die eigentliche Geschichte von Nina und Luise habe ich nicht bebildert, um eurer Fantasie keine Grenzen zu setzen. Καλή νύχτα – Gute Nacht.
So eine feine Geschichte zur Nacht. Ich danke Dir.
Liebe Grüße Bine unter den Linden
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Gute Nacht!
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Gefällt mir sehr gut, liebe Gerda.
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Herzlichen Dank nochmal, auch für das Verlinken!
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Nichts zu danken. 🙂
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Was für eine schöne Geschichte – die Details, das variierende Tempo und vor allem die starken, lebendigen Figuren, das gefällt mir wirklich alles sehr!
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Danke, Jutta! Ich bin sehr froh, dass du so tolle Vorlagen gibst, da kommt meine Fantasie viel besser in Schwung als wenn ich alleine trippele.
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Das freut mich wirklich sehr!
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eine wunderbare kleine Novelle, mitreissend und geistreich. Und wie schön die erstaunlichen Geschichten, die hinter einem Gesicht stecken, aufzustöbern. Die Luisenfigur hat mich auch etwas an Pippi erinnert, die allein und autonom mit ihren Tieren (Männer/Tiervergleich sehr sinning) in ihrem Haus lebte.
ein schönes Wochenende dir,
Dagmar
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Ach, wie toll. Gefällt mir sehr sehr sehr!
Liebe Grüße
Christiane
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freu mich sehr sehr sehr. Gerda
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Oh, ich mag diese Geschichte immernoch sehr, sehr gerne!!!
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O danke, hausauspapier! Ich habe der Luise ja leider ein böses Ende bereitet, und kaue immer noch auf einer Lösung herum, wie ich ihr endlich den verdienten „Platz in der Geschichte“ geben kann.
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Deine Geschichte klingt verdammt gut, liebe Gerda! Ich lese sie erst jetzt
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ich hab sie eben, durch deinen Kommentar, wieder gelesen und finde sie ebenfalls richtig gut und ausbaufähig.
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Ja, das ist sie wirklich, liebe Gerda!
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