Ich habe im Zusammenhang mit Jürgens Schnittresten oft über Positiv und Negativ gesprochen und weiß gar nicht, ob ihr alle versteht, was ich meine. Schaut mal hier: Jürgen Küsters „Papercuts“. Das sind vier Werke, die für mich „Negative“ wurden. Denn Jürgen hat mir den ganzen Haufen der anfallenden Schnittreste, kurz: Schnipsel, geschickt, auf dass ich daraus etwas Neues mache. Ich arbeite also mit „Verworfenem“, oder, wenn du so willst, mit dem, was NICHT realisiert wurde. Dies Verworfene birgt unendlich viele Möglichkeiten in sich, wie ich euch in inzwischen zig Legearbeiten vorgeführt habe. Dabei fielen mir nicht nur Schattenspiele, Träume, Unbewusstes und Märchenhaftes ein, sondern auch Robert Musils „Möglichkeitssinn„. Er schreibt dazu gleich am Anfang vom „Mann ohne Eigenschaften„:
„…der Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außerordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißende Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig spleenige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann – und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch – bleibt unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen.“
Heute aber wollte ich mich aus dem Traum- und Möglichkeitsrevier mal an die gewöhnliche Realität (Jürgens Papercuts), an den Angelhaken sozusagen, heranpirschen. Ich fotografierte daher Jürgens „Papercuts“ ab, um sie mit Jürgens Schnipseln zu vergleichen, und suchte nach passenden Puzzlesteinen, um die Negativform (das Weggeschnittene und Verworfene) sichtbar zu machen.
Ich bin keine geduldige Archäologin, drum denke ich, ich muss nicht das ganze Bild rekonstruieren, sondern es reicht, wenn ich das Prinzip klarstelle: links siehst du das abfotografierte Original von Jürgen (das Positiv, für ihn das Realisierte), rechts in gleicher Anordnung die Stücke, die er rausgeschnitten und verworfen hat (das Negativ, für mich das Mögliche).
Wenn du genau hin schaust, dann erkennst du die Küstenlinie (2. Bild oben) und den Fisch, die Angel und das Boot (4. Bild, ganz oben das Boot, Mitte rechts den Fisch und die Angelleine), und vielleicht möchtest du mit dem angelnden Hund und seinem Herrn in den sinkenden Abend hineinträumen. Dann verstehst du den Zauber des Möglichkeitssinns.
Wahrhaft zauberhaft 😀
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Danke von Herzen!
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😍 es sind ja die Schatten, die Negative, die wir oft nicht wahrhaben wollen und du legst so erstaunliche Bilder damit
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Danke, Heike . Durch Jürgens Material ist es mir aufgegangen. Die anderen Schnipsel hatten diese Eigenschaften nicht in demselben Maße, denn sie sind zwar Verworfenes, aber keine Negative – im Sinne von unbewussten Resten bewusster Handlungen. .
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Die Gegenüberstellung hat es in sich, eine tolle Idee noch einmal zu verdeutlichen was geschehen ist und womit du arbeitest, das war bestimmt eine ziemliche Puzzlearbeit, oder?!
Der Satz von Musil klingt noch nach, danke fürs Gedankenfutter und liebe Grüße, Ulli
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Ja, Ulli,es war Puzzlearbeit. Ich wusste zwar, wonach ich suchte, aber du kennst ja den Haufen…. 😉
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Wie wunderbar erklärt und verdeutlicht. Am Ende aber muss ich schmunzeln: Mädels, seht zu, dass ihr an praktische Männer geratet!
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Der Mann ohne Eigenschaften kann auch weiblich sein 😉
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Stimmt. Aber die Männer zu warnen, soll mal ein Mann übernehmen. 🙂
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Warum warnen? So ganz und gar unpraktische Menschen sind, egal was Musil dazu meint, ja manchmal höchst erquicklich. Libellen in einer Welt von zielgerichteten Ameisen.
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…“manchmal höchst erquicklich.“ Du sagst es.
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na ja, die träumen ja meist nicht …
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hoffentlich ist zu erkennen, wohin meine Antwort gehört:
zu den praktischen Männern
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Jeder Mensch träumt. 🙂
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aber die allzu praktischen träumen von Bauhauseinkäufen 🙂
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einen wunderschönen Dienstag wünsche ich dir, Klaus
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Danke, dir auch!
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Ganz phantastisch!
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ich freue mich!
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Deine Gegenüberstellung vom Genutzten zum Weggeworfenen, vom Positiven zum Negativen, ist sehr erhellend. Einige Male mußte ich immer wieder hinsehen, bis ich genau wußte, daß die Teile, mit denen Du arbeitest, tatsächlich die passenden Negative sind und dann Deine Legearbeit dazu, ein Mann mit angelndem Hund in einem Bötchen vor der Küste, die ich leicht finden konnte *lächel*.
Ich mag ihn sehr, den Zauber des Möglichen, denn er ist zu schön und sehr liebenswert.
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Dass du den Zauber des Möglichen magst, war mir schon klar, liebe Poetin.
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🙂
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Schön! Mensch und Hund ist immer gut.
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