Das Orakel, Teil 1

Ich lese dieser Tage wieder vermehrt Klagen, dass die Welt ein so unsicherer Ort sei. Morgen schon könne dies und das über uns hereinbrechen. Und jetzt erst, nach diesen US-Wahlen! Angst vor dem Verlust dessen, was man im Leben lieb gewonnen hat, ist besonders uns Deutschen ein so bekanntes Gefühl, dass die Amerikaner das Wort „German Angst“ geprägt haben. Was kommt auf uns zu? ist eine Frage, die so manchen umtreibt.

Ich habe dazu mal (im November 2015) eine kleine Parabel geschrieben und gelegt. Einige von euch kennen sie, andere nicht. Hier der erste Teil.

 

Das Orakel

Es war einmal ein König, der hatte alles, was ein König so braucht, und sogar noch viel mehr. Er hatte ein Reich, eine Krone, ein ansehnliches Reittier, einen treuen Hund und eine schöne junge Frau. Eigentlich hätte er glücklich sein müssen, nicht wahr?

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Doch er war unglücklich. Denn ihn quälte Tag und Nacht eine Frage, auf die er keine Antwort wusste. In der Nacht zerwühlte er das Bett, und am Morgen war er schlechter Laune. Da half auch nicht, dass die Dienerschaft ihm jeden Leckerbissen, den er bestellte, ans königliche Lager brachte.

Die Frage, die ihn quälte, war: Würde er all das, was er heute besaß, auch morgen noch haben? Würde sein Schloss nicht abbrennen, seine Frau nicht durchbrennen, sein Gaul nicht gestohlen und sein Hund nicht vergiftet werden? Saß ihm die Krone sicher auf dem Kopf, oder zielte schon ein anderer auf seinen Kopf und seine Krone?

Schließlich hielt er es nicht mehr aus und er beschloss, ein Orakel zu befragen.

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Und so machte er sich auf den Weg. Dort traf er eine alte Frau, der er sogleich seine Frage vorlegte. Die Frau, der täglich hunderte von Leuten entsetzlich dumme Fragen stellten, sah schon selbst aus wie ein Fragezeichen. Eine Berufskrankheit. Blind war sie auch, aber das schadete nicht weiter, im Gegenteil, es erhöhte ihre Glaubwürdigkeit als Sibylle. Mühsam rußte sie ihren Stab im heiligen Feuer. Damit kritzelte sie ihre Antwort an die geweißte Wand.

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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17 Antworten zu Das Orakel, Teil 1

  1. kormoranflug schreibt:

    Er hat nichts verstanden sie schrieb griechische Buchstaben.

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  2. kunstschaffende schreibt:

    Wenn man nichts hat, dann brauch man auch keine Angst haben es zu verlieren! Glück ist relativ! Um einen hohen Lebensstandard zu halten, steht man permanent unter Druck!
    Man kommt in eine Spirale, die einen immer unzufriedener macht, denn es ist nie genügend. Die Gier macht sich breit und die Seele schreit, nach mehr, wenn’s sein muss ohne Ehr!

    LG Babsi

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  3. Ruhrköpfe schreibt:

    Daumen hoch und liebe Grüße aus Do 🙂

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  4. karfunkelfee schreibt:

    Gezählt, gewogen, für zu leicht befunden und zerteilt.
    Ach hätte der König in seiner Gier doch besser die Sybille nicht gefragt.
    Es gibt ein schönes Sprichwort aus Indien:
    Tausend Gründe sich zu grämen, tausend Gründe sich zu bangen nehmen Tag für Tag den Toren, nicht den weisen Mann gefangen.
    In Deinem Legebild erkenne ich die rußgeschwärzte Schrift wieder. Sie ist schwarz vor Angst und die verbrannte Asche menschlicher Alpträume. Wurde gewogen und für zu leicht befunden. Sie ist hausgemacht wie die feurige Angst des Königs vor Verlust und die Angst des Orakels vor Fragen ohne Antwort. Doch als ihr Rätsel schrieb, war der König längst zerteilt, ein Sklave seiner Gier, ein Willenloser seines Begehrens.
    Hm.
    Ich las heute mal wieder nach langer Zeit Belsazar vom Heinrich Heine.
    An Amerika habe ich zwischendurch auch gedacht.
    Aber nur kurz.

    Liebe Grüße,
    Stefanie

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    • gkazakou schreibt:

      das indische Sprichwort trifft es ziemlich genau…..
      mir gefällt auch sehr deine Rückführung des „rußgeschwärzt“ auf das Feuer der Leidenschaften und die Weiterführung zur Asche der Alpträume. Dazwischen irgendwo liegt der Moment der Angst.

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      • karfunkelfee schreibt:

        Der Moment der Angst beginnt hier mit der Frage: Was bleibt mir zuletzt?
        Es ist keine dumme Frage des Königs. Menschlich verstehe ich seine Angst.
        Da ein König sich meistens riesig viel auf seine Weisheit einbildet, wäre es schlau sie in Frage zu stellen. Orakelnd klänge das vielleicht so:
        Wer das Geld zu sehr zusammenhält, verliert mit dem Kopf im Sand noch den letzten Rest Verstand.

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  5. finbarsgift schreibt:

    Eine feine Parabel…

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  6. teggytiggs schreibt:

    …erst das Privateigentum und ein Verhalten, dass den Reicheren sich über den Ärmeren erhaben fühlen lässt, bringt die Angst des Königs hervor, armer König, der nicht seine Macht erkennt, die Gesetze in seinem Land zu verändern…

    …und das Orakel schreibt seine Antwort diesmal nicht in den Sand? …dann ist es eine Weisheit, die für alle gilt…und sich noch oft verwenden lässt…

    …eine schöne Geschichte, obwohl ich doch gerne wüsste, was das Orakel dazu sagt….

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    • gkazakou schreibt:

      der Genuss des Besitzes trägt in sich die Angst vor seinem Verlust. Denn, wie Saint Just im Drama „Danton“ von Büchner so eindrucksvoll sagt: deine Hände sind glatt und ohne Schwielen, „ergo du hast es gestohlen“.

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  7. waehlefreude schreibt:

    …Entsprechend der „German Angst“ stand da sicherlich: „Eigener Herd ist Goldes wert.“ 😉

    Liebe Grüße,
    Frank

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  8. Susanne Haun schreibt:

    Ich halte es in der Regel so, dass ich mit dem was ich augenblicklich an Werten und Besitzen um mich gesammelt habe, glücklich bin. Für jedes Teil was hinzukommt, muß ein anderes Teil gehen. Ich möchte mich nicht mit Dingen zumüllen, die ich nicht brauche und mein Platz ist gering. Die ideellen Werte sind schwieriger zu fassen aber auch da finde ich jeden Tag auf’s neue Glücksmomente.
    LG Susanne

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    • gkazakou schreibt:

      deine Haltung,liebe Susanne, ist nicht nur weise, weil du zufriedener bist, sondern vorbildlich. Wenn viele von uns so denken und handeln würden, gäbe es weniger Angst und Sorgen in der Welt.

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  9. Monika schreibt:

    Liebe Gerda, ein Orakel zu fragen, kam mir nicht in den Sinn. Hatte ich zwar zu wählen, zwischen zwei Übeln, oder zwei Wohltaten, wurde ich mir meiner Verantwortung bewusst. Meine Entscheidungen, waren nicht nur für mich gültig, sondern allgemein. Natürlich gab es die Schwarzmalerei an den Wänden, meines Lebens. Die Worte zielten wie kleine Pfeile auf mich ab,
    Sie begleiten mich ein, mein Leben lang, aber weil sie mich begleiten sind sie mein Wegweiser. Die Straße, die ich – nicht – gehen will.
    Angst ist ein schlechter Berater, sich von ihr zu befreien, großer Kraftaufwand. Seinen irdischen Besitz, durch Katastrophen zu verlieren, vernichtend. Und was ist mit der Liebe, wenn sie geht?. Es bleibt Leere und Weite, die schwer ist, allein hindurch zu schreiten. Uns doch ist immer irgendwo ein Licht.
    LG.Monika

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    • gkazakou schreibt:

      schwarze Zeichen wie Pfeile – zeigen dir den Weg, den du (nicht) gehen willst. … Ach Monika, du deutest Schweres an, doch am Ende findest du ein Licht. Dies ist eine Geschichte, die vielleicht auch noch geschrieben werden will. Liebe Grüße! Gerda

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  10. Monika schreibt:

    Das Licht, bist du, deine Blogtexte, deine Bilder, deine Gedanken, deine Antworten. Ohne zu ahnen, worauf ich mich einlasse, bereichertest du mein Leben. Natürlich, bist du nicht das, oder die Einzige, die meinen Leben wieder zu einem Gewinn verholfen hat, sondern betrachten wir (ich) es mal so. Zu einem guten Essen, gehört ein guter Wein, aber auch ein Dessert und als Krönung zum Schluss, ein guter Kaffee. Ich hatte die Wahl, was nehme ich, den Wein, das Dessert, oder den Kaffee. Mit diesem Vergleich, sind die Anregungen an Geist und Seele, gemeint.
    Monika

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