Et in Arcadia ego / Das Kirchlein der Theodora

Vom Gipfel des Wolfsberg – mit seinem Adlerblick, dem frischen Wind, der kargen Vegetation, der Verlassenheit und den Goldbechern, die inmitten bröckelnden  Gesteins das Licht der Sonne in sich sammeln  – , bis zum Quellgebiet des Flüsschens Charadros sind es in Luftlinie nicht mehr als 15 km. Aber es eröffnet sich eine Welt, die verschiedener nicht sein könnte. Überbordende Vegetation, glitzerndes Wasser springt über weißes rundes Geröll , Vögel huschen durchs Gezweig,  Libellen breiten grüngoldene Flügel, Menschen kommen und gehen, stecken Kerzen an, die sich imWasser spiegeln, treten voller Andacht in das Kirchlein der Hl. Theodora, hinterlegen Zettelchen mit Namen geliebter Menschen, um deren Gesundheit sie bitten.

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Und das alles wegen eines „Wunders“, das so ziemlich jeder Grieche, jede Griechin vor allem, einmal besuchen möchte.

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Dieses Kirchlein – ein einfaches Rechteck mit einem Trullos (Kuppel) und einer kleinen Absis – wurde im 10. Jahrhundert gebaut, als die Venezier die Peloponnes beherrschten und sie Moreas nannten. Es steht über der Quelle des Flüsschens Charadros, so dass an allen Tagen des Jahres  Wasser in Trinkwasserqualität unter ihm hervorströmt und durch einen Dschungel von Platanen und Farnen über helles rundes Gestein hinab zum Tamissos springt.

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Schon wenig später hat das Flüsschen durch andere Zuflüsse so viel Kraft entwickelt, dass es selbst jetzt, am Ende des Sommers, eine Mühle betreiben kann.

Das wäre ja schon Wunder genug! Doch nein, das „eigentliche“ Wunder, das diesen Ort zu einem Pilgerort macht, sind die Bäume, die auf dem Dach des Kirchleins wachsen. Ja, schau nur hin! Ein ganzer Wald hat sich auf dem Schindeldach angesiedelt!

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Wunderbarer Weise haben sich die Wurzeln der Bäume nicht in den heiligen Innenraum verirrt, sondern  sind hübsch draußen geblieben. Und unter der Last der Bäume ist das Kirchlein nicht zusammengebrochen. So hat sich in tausend Jahren ein lebendiges Ensemble von Menschenwerk und Naturkräften gebildet, das sein Gleichgewicht täglich neu herstellt. Denn die Bäume wachsen ja, die Witterung wechselt, und das Kirchlein, dessen Wände und Decke schon den einen und anderen Riss davongetragen haben, wird täglich wieder liebevoll in den Gesamtverband der Naturkräfte aufgenommen, zusammengehalten, neu zusammengefügt und erhalten.

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Die alten Fresken, die die Wände noch bis in die 50er Jahre bedeckten, sind freilich fast verschwunden. Schuld sind die Besucherströme, die, seit eine bequeme Autostraße den abgeschiedenen Ort mit den umliegenden Provinzen verbindet, täglich anreisen. Der Atem der Menschen hat die Fresken ruiniert. Nur Spuren einer Mutter Maria sind noch zu erkennen – aber vielleicht ist es auch die kämpferische tapfere Theodora, die hier als Heilige abgebildet ist.

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Die Legende hinter diesem Ort willst du wissen? Nun, Theodora war die Tochter eines armen Mannes (von einer Mutter hören wir nichts), der viele Töchter, aber keinen Sohn hatte. Die Familien waren aber verpflichtet, einen Sohn für den Wehrdienst zu stellen oder das Geld für einen Söldner aufzubringen. Was war zu tun? Geld gab es nicht, Söhne gab es nicht und der Vater war zu alt und klapprig für den Wehrdienst. Kurz entschlossen verkleidete sich Theodora und wurde zu Theodor, tat sich durch besondere Tapferkeit hervor und wurde sogar zum Hauptmann befördert. Doch dann wurde eine Nonne, deren Kloster seine Gruppe zu bewachen hatte, schwanger. Um sich zu retten, bezichtigte die Nonne den Theodor, er habe sie vergewaltigt. Theodora lüftete ihr Geheimnis nicht, da sie ihren Vater nicht gefährden wollte, und so wurde sie verurteilt und geköpft. Doch zuvor äußerte sie einen Wunsch: Mein Leib soll zu einem Kirchlein werden, meine Haare zu Bäumen und mein unschuldiges Blut zu einem Fluss. Und so geschah es ….

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Durch und durch weiblich ist dieses Kirchlein, das fühlst du sicher auch, wenn du einmal in die Gegend kommst und es besuchst. Es ist Höhle, Mutterleib, Innenraum. Wenn du willst, kannst du das Kirchlein auch für den abgeschlagenen Kopf der Theodora halten. Denn das Geistige ist ja nicht auf die Männer beschränkt, die asketisch in den Höhen wandeln und denen gelegentlich auch der Kopf abgeschlagen wird (siehe Johannes der Täufer in:  https://gerdakazakou.com/2016/09/16/et-in-arcadia-ego-der-wolfsberg/ ). Nur äußert sich das Geistige bei uns anders, denke ich. Kein Totenkopf präsentiert sich hier. Aus unserem kämpferischen Haupt dürfen Wälder sprießen, in denen Vögel nisten, und Quellen dürfen aus ihm strömen zur Freude aller Lebewesen.

Et in Arcadia ego. Viel wurde gerätselt über diesen Satz. Goethe setzte ihn als Motto über seine Italienische Reise. Manche glauben, der Tod spreche den Satz aus: „Auch mich wirst du im paradiesischen Arkadien antreffen“. Manche sehen darin einen Einweihungssatz: „Auch ich war in Arkadien – ich weiß alles über Leben und Sterben“. Das berühmteste Bild dazu hat im Jahr 1638-9 der Barockmaler Nicolas Poussin gemalt. Die „arkadischen Hirten“ entziffern die Inschrift auf einem Sarkophag. Sie heißt Et in Arcadia ego. Eine hohe Frauengestalt legt ihre Hand auf die Schulter des einen Hirten, der sich fragend umwendet, als wolle er sie bitten, ihm das Rätsel zu lösen. Aber sie lächelt und schweigt.

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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10 Antworten zu Et in Arcadia ego / Das Kirchlein der Theodora

  1. San-Day schreibt:

    Und wieder einmal nehme ich Beeindruckendes bei Dir mit. Lieben Dank.

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  2. Arabella schreibt:

    Ein fasziniernder Ort mit einer wundersamen Geschichte. Gern wäre ich dort.

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  3. Myriade schreibt:

    Ein wirklich zauberhafter Ort, Stein, Wasser, Pflanzen ….

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  4. teggytiggs schreibt:

    …welch schöne Geschichte hinter dem Kirchlein liegt…der heilige weibliche Leib, der zur Quelle für wohltuendes Wasser wird, von Baumhaaren überschattet…

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  5. bruni8wortbehagen schreibt:

    Ein besonderer Ort, ein Kirchlein, aus dessen Dachschindeln Bäume mit Blättern sprießen, wo gibts nur sowas *lächel*. Hättest Du es nicht geschrieben u. fotografierend gezeigt, hätte ich es nicht geglaubt. Die Geschichte hinter dem Kapellchen klingt wie ein Märchen, aber kein hübsches kleines, sondern eines von einer starken Frau, die ihren Vater mehr liebte als ihr Leben.

    Das Kirchlein der Theodora werde ich sicherlich im Gedächtnis behalten, so sehr angerührt haben mich Deine Zeilen, liebe Gerda

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  6. gkazakou schreibt:

    Das freut mich, liebe Bruni: dass du den Ort und die Theodora im Gedächtnis behältst. Zu meinem Beitrag „Flieg Vogel flieg“ bekam ich von Elsbeth eine Gedichtszeile der iranischen Dichterin Farugh Farochzad geschenkt, die mich nun begleitet: „Behalte den Flug im Gedächtnis. Der Vogel ist sterblich“.

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