Samstag ist Märchenstunde: Von einem, der auszog …

… das Fürchten zu lernen. oder das Gruseln.

Ein Vater“, so beginnt das Grimmsche Märchen, „hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheidt und wußte sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen“.  Der Gescheite gruselte sich, wenn die Umstände danach waren, der Dumme nicht. Sein größter Wunsch war zu lernen, was das ist, dies Gruseln.

Als erster erbietet sich der Küster, dem Jungen das Gruseln beizubringen. Er erscheint ihm als Geist.  Der Junge ruft den „Geist“ dreimal an, und als der nicht antwortet, schmeißt er ihn ins Schallloch des Kirchenturms – mit tödlichem Ende.  Daraufhin jagt der Vater ihn fort. Der Junge geht forsch in die Welt, hat eine Reihe von Begegnungen mit Gehängten, Riesenkatern, halben Männern, graubärtigen Riesen, Geistern, die mit Totenköpfen kegeln, und dergleichen mehr. Schließlich befreit er das Königsschloss vom Spuk und bekommt die Königstochter zur Frau, dazu auch einen großen Goldschatz. Nur, so ganz zufrieden ist er nicht, denn immer noch weiß er nicht, was Gruseln ist. Da ruft seine Frau die Kammerjungfer zur Hilfe. Die holt einen Eimer mit Wasser, in dem Gründlinge schwimmen. Und Nachts, als der junge König schlief, mußte seine Gemahlin ihm die Decke wegziehen, und den Eimer voll kalt Wasser mit den Gründlingen über ihn herschütten, daß die kleinen Fische um ihn herum zappelten. Da wachte er auf und rief „ach was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich was gruseln ist.“

Na und?, wirst du fragen. Ist das ein Märchen? Ich gebe zu, dass ich es nicht zu meinen Lieblingsmärchen zählte. Aber die Brüder Grimm setzten es an die vierte Stelle ihrer Sammlung, und sie waren weise Leute. Ich dachte also nach, als ich die Bilder zu dem Märchen legte. Vielleicht, dachte ich, gefällt es mir nicht so, weil es offenbar ein Märchen für Jungs ist.

Die ersten Abenteuer sind eine Art Ouvertüre, in der uns der Junge vorgestellt wird. Und wie ist er? Ohne Arg, gutmütig, stark, hübsch. Aber dumm? Nein. Anstatt vor Spukgestalten zu erschrecken, schreitet er  zur Tat. Er ist tatkräftig. Aber etwas fehlt ihm. Dieses Etwas, das die Leute mit „Gruseln“ bezeichnen. Ich nenne es hier mal versuchsweise Empathie* (Einfühlungsvermögen).

Richtig los geht es, als der Junge beschließt, ins Spukschloss zu ziehen, um die Königstochter für sich zu gewinnen. Der König erlaubt ihm, „drei leblose Dinge“ mitzunehmen. Und was wünscht sich der Dummling? Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank! – Also darauf wäre ich nicht verfallen! Dumm kann ich das nicht finden. Dies Knäblein ist ein homo faber, ein Macher, der Feuer (Verstand) und komplizierte Werkzeuge zu benutzen weiß. Er ist, möchte ich sagen, ein typischer Rationalist, der handeln kann, bei dem Gefühle aber nicht mitklingen.

So gerüstet erwartet der Junge den Spuk. Als erstes erscheinen zwei riesige schwarze Kater mit glühenden Augen. Einen davon habe ich aufs Bild gebracht – samt dem Feuer  und den Werkzeugen.

Erschrickt der Knabe? Gruselt ihn gar? Natürlich nicht. Das ist alberner Spuk, mit dem wird ein aufgeklärter Kopf leicht fertig. Pfoten einklemmen, Nägel schneiden, Kater totschlagen, Kadaver ins Wasser schmeißen.

Die anderen Episoden habe ich gar nicht erst gelegt. Bleibt die letzte. Der Eimer Wasser mit den Gründlingen wird auf den Schlafenden entleert – der wacht auf und gruselt sich.

 

Hier sind erst mal die drei Protagonisten zu sehen: die Königstochter, die Kammerzofe und der junge Mann. Über ihn werden Fischlein ausgeleert, die, nun, ein wenig wie Spermien aussehen. IMG_5558

Der junge Mann wird durch das Wasser brutal geweckt. Er schrumpft dabei, wird zum Knäblein, das die beiden Weiber nur verschwommen wahrnimmt. Könnte es sein, dass dies ein Märchen über das Trauma des Geborenwerdens ist? Als Knabe geboren zu werden? Schau, schreien sie vergnügt, es ist ein Junge!

IMG_5560ccc

Winzig ist das Knäblein, blutig noch. Aus dem Geburtskanal, aus dem großen schwarzen Loch kämpft es sich ans Licht, Kopf voraus.

Unser Held hat keine Mutter. Jedenfalls kommt sie im Märchen nicht vor. Nur einen Vater und einen Bruder hat er. Er weiß mit Feuer umzugehen, auch mit Werkzeugen. Aber an seine Gefühle kommt er nicht ran. Das spürt er, und er nennt es: ich möchte lernen, was gruseln ist. Seine Frau wird es ihm beibringen.

Die meisten Kinder wollen sich gruseln. Es gibt eine richtige Industrie dafür: Gruselfilme, Gruselspiele. Auch etliche Erwachsene suchen das Gruselgefühl. Warum? Die Gänsehaut, das gesträubte Haar, der Schüttelfrost der Aufregung, der Schweißausbruch, die Schluckbeschwerden, die Fluchttendenz –  als Spiel. Man(n) fühlt! Anscheinend fühlt man sonst nicht. Man(n) braucht Horror, um das Gefühl in sich lebendig zu machen. Frau (sagt man) braucht Liebesromanzen.  Na ja, nicht unbedingt. Ich brauche weder – noch.

—————

*Empathie = Einfühlung. Von altgriechisch ἐμπάθεια (Leidenschaft, starke Gefühlsregung). Es wurde im 19. Jh. aus πάσχειν (leiden, fühlen), nach dem Vorbild von Sympathie, in seiner jetzigen Bedeutung neu gebildet.

 

 

 

 

 

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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15 Antworten zu Samstag ist Märchenstunde: Von einem, der auszog …

  1. mannigfaltiges schreibt:

    Ich mag keinen Grusel – weder in der Phantasie noch in echt.
    Mir reichen meine Träume.
    Dann schon lieber Romanzen – in der Phantasie aber auch in echt.
    Leider selten in Träumen.
    LG Erich

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  2. juergenkuester schreibt:

    Liebe Gerda! Vielleicht ist das Gruseln auch der Weg oder die Möglichkeit sich selbst zu spüren. Liebe Grüße Juergen

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  3. gkazakou schreibt:

    Grad so meinte ich es, Jürgen! Die Frage ist, warum spüren manche Menschen sich selbst nicht und haben daher auch keine Empathie, kein Mitgefühl für andere? Mir fielen aktuell die netten jungen Männer ein, die in den Jihad ziehen – um das Gruseln zu lernen, nachdem alle Actionfilme ausgereizt sind?

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  4. haluise schreibt:

    NUN JA
    ARNO GRUEN teilt mit: erst die eltern, dann die lehrerInnen und dann die ganze gesellschaft beschäftigt sich mit der zerstörung der menschen von winzig klein an: durch ständiges – das darfst du nicht, das tut man nicht, sei ruhig, bist du verrückt usw …
    DEINE KREATIVITÄT wird systematisch untergraben, denn in ihr erweist DU DICH und das haben die anderen garnicht gerne, das stört den konkurrenzkampf unter schul-idioten mit mini-selbstwert. das ziel sind – clone (obwohl keiner weiss, was menschliche clone wirklich LEBEN)
    Prof.. Hüther bestätigt das in dem film ::: alphabet

    BIN LUISE

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    • gkazakou schreibt:

      Nun ja, das sind so professorale Übertreibungen. Ziel ist es nicht, Klone herzustellen. Und die Lehrer generell als „Schul-Idioten mit Mini-Selbstwert“ abzukanzeln, zeigt viel Arroganz des Herrn Arno Gruen. Ohne die doofen Lehrer, die ihm offenbar im Hals stecken geblieben sind, könnte er gar nicht schreiben. Hoffentlich ist ihm die Kreativität nicht ausgegangen.

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  5. Maren Wulf schreibt:

    Sehr interessante Interpretation, Gerda. Darüber denke ich noch mal ein bisschen nach. Und großartig inszenierte Bilder.

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  6. elsakgaertner schreibt:

    Ein Gedanke wäre auch, dass sich erst mit der richtigen Frau an der Seite Gefühle einstellen. Er hat sich vorher ausprobiert, quasi die Hörner abgestoßen, aber es wollten keine Gefühle aufkommen. Vielleicht geht es in dem Märchen schlicht und einfach um die Liebe? 🙂

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    • gkazakou schreibt:

      Vielleicht. Aber warum müssen dann die Kammerzofe und der Wassereimer mit den Fischen her, und es reicht die Liebe nicht? Im allgemeinen ist die Prinzessin im Märchen ja ein Seelenaspekt des Helden.
      Auffällig ist jedenfalls, dass keine Frauen vorkommen (außer der Küstersfrau, die den toten Ehemann bejammert) – bis der Held mit der Prinzessin verheiratet wird. Die ist der Lohn für seine Arbeit , von persönlicher Liebe keine Spur. Er wacht erst auf – seine Gefühle werden deblockiert – als die Fischlein über ihn weg wimmeln.

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      • elsakgaertner schreibt:

        Mein Gedanke war, dass das Gruseln für das Lieben steht. Aber ich müsste das Märchen noch einmal komplett lesen, um zu überprüfen, ob mein Gedanke stimmen kann. Eventuell möchte man uns auch vermitteln, dass es oft nur einer kleinen Sache bedarf, um etwas zu ändern. Just my two cents.

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  7. gkazakou schreibt:

    Ja, lies mal nach und sag Bescheid, zu welchem Schluss du gekommen bist. Falls du Lust dazu hast, natürlich.

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  8. Agnes Podczeck schreibt:

    Das ist ja eine interessante Interpretation – Mangel an Empathie, Unfähigkeit Gefühle zu empfinden und die Erkenntnis, dass da etwas nicht stimmig ist. Und auch als er schon alles hat – eine Frau, Reichtum und ein Königreich – spürt er, dass da etwas nicht stimmt. Ja, Deine Deutung macht für mich viel Sinn.
    Wenn nur im wahren Leben die Kur für derartiges so einfach wäre – kaltes Wasser, Fischlein und die Psyche ist wieder im Lot. Wie man auf diese Weise das Gruseln lernen kann, habe ich auch schon als Kind nicht verstanden.
    Liebe Grüße zu Dir

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  9. gkazakou schreibt:

    ich nehme an, es ist die plötzliche ungeschützte Berührung mit dem Naturelement,aus dem wir alle stammen.Normalerweise wird der vermieden, denn der Kopf regiert, und die Gefühle werden blockiert.. Nun aber ist der junge König im Schlaf und wird schockartig geweckt. wie ich sagte, scheint es mir wie eine Wiederholung der Geburtssituation zu sein.

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