Auf meinem heutigen Spaziergang sah ich, dass der rote Mohn noch nicht ganz verschwunden ist. Und ich freute mich. Soll man sich nicht freuen, wenn in all dem Grün und Ocker des frühen Sommers das Rot des Mohns aufspritzt und von jungem kräftigem Leben zeugt?
Und doch schwingt bei „Mohn“ immer auch „Tod“ mit.
![](https://gerdakazakou.com/wp-content/uploads/2022/05/img_3992-e1651760698211.jpg)
Foto vom 5. Mai 2022, Eintrag „Tot oder lebendig“
Diese Verbindung kann ich nicht lösen. Sie ist immer da. Ist es ihre Blutfarbe, die das Land wie mit Blutstropfen spenkelt, oder sind es Gedichtszeilen, die sich mir so tief eingeprägt haben, dass sie auch den freudigen gelebten Moment mit Trauer und Schrecken durchtränken?
Als Dora mir im Februar des Jahres 2022 eine zerknautschte Mohnblüte anbrachte, sagte ich ihr nichts von dieser Gedankenverbindung, um ihr nicht den Spaß zu verderben, aber ich konnte den Gedanken nicht verdrängen.
Das las sich damals so: „Ja, Dora“, sagte ich, „das wird wohl auch eine Mohnblüte sein, aber eine verschrumpelte, die vor ihrer Zeit auf die Welt kam. Eine Mohnblüten-Frühgeburt.“
Mohn im Februar – wer hat das schon gehört? Gehört sich das? Doch von gestern auf heute sind andere Dinge geschehen, die weit ungehöriger sind. Und die für mich untrennbar mit dem Mohn verbunden sind. Heute erwähnte ich es nicht, aber ich dachte daran: „Und so fügten sich der Hühnergott, der schwarze Stein, die Zeilen von Aragon, das Wort Coquelicot und die Abbildung des Mohns zu einer Assoziationskette: Das Grauen des Kriegs,…“ (vergleiche hier).
Als ich dein Foto der Mohnfrucht sah, liebe Myriade, ratterte es wieder in meinem Kopf los, ich konnte nicht umhin, an McCraes Gedicht „In Flanders Fields“ zu denken. Es ist unter dem Eindruck des WWI entstanden.
In Flanders Fields
In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.
We are the dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved, and were loved, and now we lie
In Flanders fields.
Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields.[Übersetzung 1]
Nicht das englische Wort für Mohn – Poppy – , sondern das französische – Coquelicot – ziert unsere Küchendecke, und es ist ein anderes Gedicht, eines von Aragon, das dort in Teilen aufgedruckt ist. Er schrieb es 1940 unter dem Eindruck von WWII und eines anderen deutschen Vormarsches in Flandern (Übersetzung von Friedhelm Kemp).
O Mond der Blütenfülle Mond der Metamorphosen
Mai wolkenlos und Juni von scharfem Dolch durchwühlt
Nie werd ich dies vergessen den Flieder und die Rosen
und jene die der Frühling in seinem Schurz behielt
Nie werd ich dies vergessen die tragische Verblendung
den lauten Jubelzug das Volk die Sonne groß
die Panzer Belgiens Gaben und liebende Verschwendung
der Straßen grellen Flimmer in summendem Getos
den Taumel des Triumphes voran ob Schlacht und Stürmen
das Blut das im Karmin der Küsse schon erglänzt
und jene Todgeweihten aufrecht in ihren Türmen
die ein berauschtes Volk mit Flieder rings umkränzt
Mein Denken geht immer zum Krieg und zu den Toten, wenn ich Mohn sehe. Und zu Celan und seinem Gedichtband Mohn und Gedächtnis, darin die Todesfuge, darin die wiederkehrende Zeile Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Ich möchte ein Grab in den Lüften nahe bei Margarete und Sulamith beziehen und vergessen. Aber das geht nicht. Kriegstrommeln halten mich wach. Immer wieder Kriegstrommeln. Und Felder von Mohn.
Ach, Dora, wo bist du mit deiner Fröhlichkeit, die mir zu verstehen gibt, dass es falsch ist, die schwarze Milch der Frühe nachts und am Tage zu trinken, und dass die Trauer über die Grausamkeit und das Leiden der Menschen niemals die Freuden des gegenwärtigen Tages zerstören darf! Der Mohn blüht ja besonders schön über Ruinen!
Dies ist ein Beitrag zu Myriades „Impulswerkstatt“, Bild drei. Natürlich ist es auch ein Beitrag zum Mosaikstein „Abgründe“, auch wenn das Wort nicht vorkommt.
Das ist eine spezielle Prägung, liebe Gerda, die ich nun nicht zu tief hereinlasse, denn bisher ist Mohn für mich die pure Freude.
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das freut mich sehr, Ulli. Hab schon einen zweiten Beitrag geschrieben, weil auch ich diese Prägung auflösen möchte.
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Ja, ich habe ihn gelesen. Schön, dass du es auflösen möchtest.
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Für mich ist die Mohnblüte in rot immer mit der Bedeutung „FRAU“ verbunden. So habe ich sie auch desöfteren von tiefrot bis violett gemalt…
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das ist eine schöne Assoziation, liebe Gerel, aber auch sie kann schmerzhaft sein.
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JA , aber gerade in Celans Gedichtband “ Mohn und Gedächtnis“ gibt es außer der Todesfuge und Anderem das wunderbare Liebesgedicht “ „Corona,“..(Laaange vor dem, was dann aus „Corona ‚wurde!)Dies Gedicht enthält die beiden Worte, genau in dieser rhythmischen, klangvollen Verbindung.Also, das ganz andere Bild…fas nicht mit Blut und Tod sich verbindet….eher wie die Worye auf einem Bild von Monet.Oder wie auf deinem Balkon .
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Ja, freilich.
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Das ganze Gedicht, von Celan vorgetragen, habe ich hier schon gepostet (am Ende). https://gerdakazakou.com/2020/09/05/hitze-vier-aquarell-federzeichnungen-und-ein-ausflug-in-sprache-mythos-und-poesie-neue-rubrik-deutsche-woerter-griechischer-provenienz/
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Na, klar kennst Du das Gedicht. Sorry, ich wollte Dich nicht belehren. Nur erinnern ! Danke für den link. Schön auch , einmal wieder Celans Stimme zu hören !!
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Danke, Elsbeth, ich fühlte mich keineswegs belehrt und freute mich, dass du mir die Gelegenheit gabst, auch auf dieses Gedicht zu verweisen. Im Text wäre es zu viel geworden. 😊
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Noch eine kleine Episode zu, mit Celan. Ich habe ihn seine Gedichte lesen gehört. Wenige Monate vor seinem Freitod. Im AudiMax der Uni Freiburg. Unvergesslich !! In den ersten Reihen saßen die ganzen Freiburger Honoratioren. Auch Heidegger war gekommen. Nachdem Celan mit den üblichen professoralen einleitenden Worten langatmig begrüßt worden war, ging Celan ans Pult, schaute erst einmal ruhig ins Publikum und begann, ohne diesen ganzen Bedankungsredeschwall an die „sehr Verehrten, mit sämtlichen Titeln u.u.u.“ einfach mit dem Lesen seiner Gedichte. Das Audimax proppevoll ging spürbar mit .Wie ein großer Atemstrom. Und, was mich methodisch(!) faszinierte, manche Gedichte las er, ohne Erklärung, ganz ruhig ein zweites Mal. Es ging ums Hören, Aufnehmen, Hören. Seitdem begleiten mich seine Gedichte und auch seine aphoristischen Gedanken in „Mikrolitchen sinds, Steinchen“.
Grüße !!!
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Schön, was du schreibst, da hast du einen besonders lebendigen Zugang zu Celan. Mir ist seine Bild-Sprache früh unter die Haut gegangen, schmerzhaft selbst da, wo er Lebensvolles beschreibt.
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oh ja, er geht unter die Haut, liebe Gerda.
Zu mir kam er nicht früh, aber früh genug um ihn zu erkennen und dann auch um sein Umfeld und auch um die zu wissen, die ihm nachfolgten. Wenn ich mich richtig erinnere, war er ein Onkel von Selma Meerbaum-Eisinger, die so schrecklich jung im Zwangsarbeitslager Michailowka starb…
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Die „Todesfuge“ hat mich in meinem Germanistikstudium tief beeindruckt. Manchmal denke ich, wir beide, Gerda, und eine Handvoll andere hier sind die letzten Pazifisten, aber das kann und darf doch nicht sein?! Ich vermisse Dora wirklich sehr… LG Marion
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Auch mir fehlt Dora. Sie half mir sehr, das ansonsten schwere Jahr 2022 locker zu überstehen und sogar zu genießen. Die „Transparenz“, die dieses Jahr begleiten sollte, glänzt meistens durch Abwesenheit, und wenn sie doch mal erscheint, wird mir mulmig zu Mute.
Hab schöne unbeschwerte Tage in Paris! Du wirst die Kraft gut brauchen können. Gerda
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Da sprichst du gleich in drei Fällen ein großes Wort gelassen aus, liebe Gerda! Ich möchte dir an dieser Stelle nochmal sagen, wie wichtig ich es finde, dass du hier die Dinge immer mal wieder „gegen den Strich bürstet“…
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Herzliche ndank, Marion! 🙂
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Auf Ruinen blühen sie besonders beeinruckend, die blutroten Mohnblüten, oh ja, auf kargem Boden, der ungepflegt liegt. Sie sind bescheiden, blühen ohne jeglichen Dünger, die Natur ist ihnen *Dünger* genug.
Ich liebe sie auch ohne das Wissen um Tod und Trauer. Sie verkörpern in ihrer Schlichtheit die Schönheit schlechthin.
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sie waren Cousins 2. Grades, beide aus Cernowic, Bukovina, damals Rumänien. Celan war vier Jahre älter und überlebte Ghetto und Zwangsarbeit.
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Ich habe die Biographie von selma gelesen, ist aber schon ein bissel länger her…
Die Bukovina, die Landschaft, von der heute keiner mehr spricht… Ach ja
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