Dichterlesung 1960 (abc-etüde, autobiographisch)

https://365tageasatzaday.wordpress.com/2023/03/05/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-1011121323-wortspende-von-werner-kastens/

 

Dichterlesung.

Die Dame mittleren Alters, grauhaarig, will mir scheinen – oder war es nur mein Eindruck, damals, selbst 17 Jahre jung und voller Lebenslust, Wut und Protest gegen so vieles –   würdevoll begrüßt vom Schuldirekter, Herrn Dr. Dr. Thielemann (Germanistik und Theologie), bestieg die Bühne der Aula, setzte sich auf den bereitgestellten Stuhl, rückte das Leselicht zurecht. Wir Schüler waren bereits in dem großen Raum versammelt, ordentlich sortiert nach Klassenstufen. Ich selbst war damals bis zur Unterprima vorgerückt.

Die Aula befand sich in einem im „wilhelminischen Stil“ errichteten Backsteingebäude, etwas abseits des Zentrums der norddeutschen Kreisstadt, dessen größte Attraktion die Eisdiele am Marktplatz war. Eine Dichterlesung hatte es bisher noch nie gegeben, man war, was das Kulturleben betrifft, sehr genügsam. Überhaupt hatte man genügsam zu sein, in jeder Hinsicht.

Ich war nicht genügsam und erregte Anstoß. In mir tobte der Aufstand. Was hatte diese ältliche Dame mir schon zu erzählen? Anderes brauchte ich, andere Lektüre suchte ich, als mir diese Selbstdarstellerin ihres eigenen ach so aufregenden Lebens bieten könnte. Sicher hatte sie auch ihre Beteiligung am deutschen Verbrechen heruntergespielt. Das taten sie ja alle. Wie leicht hatte man die „deutsche Frau“ verkuppeln können mit den schneidigen Herren der Welt.  Und hinterher waren ja alle soo überrascht, als sich herausstellte, welchem System sie gedient hatten.

Ja, so war das damals. Ich war verstört und zornig. Erbarmungslos und ungerecht. Die Rechtfertigungen der Älteren interessierten mich nicht. Ihre Moral schon gar nicht. Mich interessierte die Wahrheit. Die tiefe Wahrheit des Menschen,  die allein mir erklären könnte, was geschah. Die Abgründe der menschlichen Seele wollte ich erkunden. Alles war ich bereit, in mich aufzunehmen und zu bedenken, nur die Scheinheiligkeit nicht. Nicht die Beschönigung.  Da war ich unerbittlich.

Siebzehn war ich damals, und die vortragende Autorin war Luise Rinser.  

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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28 Antworten zu Dichterlesung 1960 (abc-etüde, autobiographisch)

  1. Anonymous schreibt:

    Kommentar weg- oder doch nicht?

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  2. Christiane schreibt:

    Liebe Gerda, darf ich fragen: Wie hat sie damals auf dich gewirkt, konnte sie Gnade vor deinen Augen finden? Und hat sich deine Einstellung ihr gegenüber über die Jahre hinweg verändert?
    Herzlichen Dank für die erste März-Etüde, wenn ich das richtig sehe 😉
    Spätvormittagskaffeegrüße ☁️⛅☕🍪👍

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    • gkazakou schreibt:

      Ich habe nie etwas von ihr gelesen, obgleich meine Mutter das Gesamtwerk hatte und es sehr schätzte. Als meine Mutter starb, hätte ich die Bücher übernehmen können. Aber ich legte keinen Wert darauf, was ich etwas bedaure. Denn ich vermute, dass sie trotz allem eine gute Schriftstellerin war.

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  3. wildgans schreibt:

    Vor lauter jugendlichem Ungestüm das Zuhören vergessen…

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  4. Oh, Gerda… *lächel* und dann sitzt da Luise Rinser…
    Wie fandest Du sie?

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  5. Werner Kastens schreibt:

    Da habe ich mit meiner Wortspende ja ganz schön etwas aufgerührt in Dir.
    Aber toll, dass Du es mit uns teilst. Man spürt immer noch Deinen damaligen Widerwillen in Deinen Zeilen, die, vermute ich, wohl in einem Rutsch ohne Pause niedergeschrieben wurden.

    In mir kommt auch immer wieder die blanke Wut hoch, wie leicht die Nazigrößen es doch hatten, nach dem Krieg weiterhin in hohen Posten zu verbleiben.
    Beispiel Medikamentenversuche an Kindern, die damals „verschickt“ wurden in Landschulheime etc.
    Ich zitiere aus meiner Tageszeitung von gestern:
    “ Die Versuche hätten begonnen, nachdem der Kinderarzt Werner Catel, der während der NS-Zeit maßgeblich an der Kinder-Euthanasie beteiligt war, Chefarzt wurde. Das war 1947.“
    (Anmerkung von mir: Chefarzt einer hessischen Kinderheilstätte).

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  6. derdilettant schreibt:

    So ein schöner Text. Und Einblick in eine längst versunkene Zeit. Und doch so aktuell. Wenn wir ins Leben starten, wollen wir das Rad neu erfinden. Sind wir erst eine Weile unterwegs, bekommen wir immer mehr mit vom jahrtausendealten Getriebe und Geräder. Und entdecken die Kreisbewegungen. Manchmal spiralförmig. Schönen Sonntag!

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    • gkazakou schreibt:

      Seufz, ja. Mit der Spiralbewegung, die womöglich nicht mal diesen Namen verdient hat, sondern eher den des Rads der ewigen Wiederkehr, hast du nicht ganz Unrecht.

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      • derdilettant schreibt:

        Ich sehe es etwas positiver, also durchaus die Spiralbewegung. Spätestens wenn ich mich frage, hättest du lieber vor 100 Jahren zum Zahnarzt gehen müssen, oder heute, erlebe ich die Spirale. Ganz banal.

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, selbstverständlich ist heute das Zahnarztgehen weit weniger unangenehm. Das Spazierengehen in Wald und Flur hingegen ist inzwischen weit weniger erfrischend, man muss schon großes Glück haben, um ein freies Tier zu sichten. Oder um die Gestirne am Himmel zu sehen. Die technologischen Fortschritte werden eben durch ebenso viele Rückschritte in der Natur bezahlt.
      Ich gebe dir aber recht, dass ich trotzdem lieber heute lebe. Denn ohne Waschmaschine auskommen? Nein!

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  7. elsbeth schreibt:

    Seufz, Gerda…tja…oh ja… die Rinser…..Ich fand sie laut,selbstgerecht, eitel, selbstbezogen ,wichtigtuerisch, unangenehm auf Breitenwirkung konzentriert…..wenn sie z.B. lautstark “ ihre“ (!)Rollstuhlfahrer nach vorne bat, damit auch alle ihr “ tolles“ soziales Engagement mitbekamen.Ich war zwar schon Mitte 20, aber sie machte mich genau so wütend.Dieses Getue als
    “ Widerstandskämpferin“…Vor allem, wenn man bedenkt, was später alles über ihre Nazivergangenheit ans Licht kam.Warum konnte sie—und sooo viele ihrer Generation !!— nicht bekennen, dass sie an die Nazis geglaubt haben…oder ihnen auf den Leim gegangen sind ?? Oder wenigstens still die Klappe halten ? Nein,man musste sich als“ Widerstandskämpfer/in „stilisieren. Wie viele meiner Lehrer , Lehrerinnen in den 60gerJahren…..Und..wo waren denn die Millionen, die den totalen Krieg mit- herbeigebrüllt hatten ????.
    Rinsers Biograf und Freund Sanchez de Murillo(2011) über sie “ Die Rinsersche Tragödie besteht darin, niemals den Mut aufgebracht zuhaben zu gestehen, zu ihrer Vergangenheit zu stehen.“…
    (Dennoch denke ich, das weise Wort..“…. der werfe als Erster den Stein“ , gilt auch hier.Wie bei jedem fixen Urteil über einen Menschen..)

    ..Nur…der Zorn bleibt!Auch weil sie für so viele steht !!

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Elsbeth. für deinen Kommentar, der so sehr meinem damaligen Gefühl entspricht. Tatsächlich wusste ich damals von Rinser weiter nichts, als dass sie ziemlich bekannt war und ihren Gleichaltrigen gefiel. Alles andere erfuhr ich später. Mir missfiel schon mal all dies Getue, dort in der Aula, ich brannte vor Widerwillen. Damals gings mir um den Heidte-Savade-Skandal, ging es mir um die Wiederbewaffnung, ging es mir um den Beton, der auf die Jahre davor ausgegossen war, um das Heile-Welt-Getue und man bekam keine Antworten. Natürlich gings auch um mich, meine pubertäre Verzweiflung und Wut (wer bin ich in all dem?), die Unfähigkeit, irgendwo ein erwachsenes Vorbild zu finden, einen Anker, der meinem Boot ein wenig Schutz und Ruhe gegeben hätte.
      Inzwischen bin ich viel toleranter geworden. Was bedeutet: auch mir gegenüber toleranter, oder genauer: ich verstehe, wie es geht, dass man sich selbst in ein anderes Licht stellt als in das der Wahrheit.

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      • elsbeth schreibt:

        ich muss allerdings auch noch ergänzen, dass mich das AUFTRETEN von Luise Rinser in einer Dichterlesung GEWALTIG nervte.

        Davon unabhängig sind einige ihrer Bücher gut !! Vor allem „Jan Lobel aus Warschau“.. die Geschichte eines aus den berüchtigten Todesmärschen aus den KZs geflohener Jude, der von 2 Frauen in einer Gärtnerei versteckt wird… Und all die Probleme, die in den Tagen in so einem Dorf, kurz vor und nach Kriegsende, damit für alle Betroffenen entstehen. Einfühlsame, echte Personendarstellungen….speziell dieser extremen Zeit.
        Von der Erzähltechnik her noch ganz 19.Jahrhundert, SEHR anders als z.B. die 10 Jahre jüngere Ilse Aichinger (!). Aber das Thema, der „Stoff“ dieser kleinen Erzählung ist überzeitlich — mit seiner Frage nach Menschlichkeit IM Krieg.

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      • gkazakou schreibt:

        Danke, das klingt interessant. Ich möchte (wollte) Luise Rinser wirklich nicht in die Pfanne hauen, kenne ja nichts von ihr, es ging mir vor allem um meine eigene Befindlichkeit in jener Zeit. Und ich merke oft, dass sich einige Grundthemen für mich nicht geändert haben, nur bin ich viel duldsamer, milder im Urteil geworden.

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  8. Melina/Pollys schreibt:

    Ja, aktuell, wie wahr – alles wiederholt sich…. Und auch mich lenkten beim Lesen gleichzeitig auch mein eigenes Sein mit 17 Jahren – ein wenig ab. Eine gewaltige Zeitspanne…. und mir fiel auf, dass Du – wie mir scheint auch wie ich – ein junger Mensch mit großer Ernsthaftigkeit in der Welt gelandet warst. Und mir fiel auch während des Lesens Deines Beitrages immer wieder Hannah Ahrendt mit ihren Warnungen ein.

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    • gkazakou schreibt:

      Hannah Ahrendt, ja, sie zu studieren ist immer hilfreich. Damals kannte ich sie nicht. Damals gab es nichts als Verschweigen rundum. Bei Wahlen 1959 gabs in einem Heimatort einen „Sozi“ und 24 % NPD.sEs gab auch keine Buchhandlung, sondern nur einen Laden mit Schnittmustern, Frauenzeitschriften, Schulbüchern und Unterhaltungsliteratur. Zu meinem Glück übernahm ein Hamburger Buchhändler das Lädchen, wir diskutierten viel und er brachte mir, was ich lesen wollte. Leider endete er mit Selbstmord, was ich verstand.
      Ich glaube, niemand kann sich heute eine Vorstellung davon machen, wie stickig Deutschland war. …. Inzwischen sind wir ja schon wieder bald dort, wo wir damals waren.

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  9. gkazakou schreibt:

    Ich lasse nun auch diesen Kommentar stehen, wegen des guten Rats, sich nicht „rädern“ zu lassen. 😉

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  10. Anna-Lena schreibt:

    Ein starker Text, liebe Gerda. Ich habe auch nie etwas von ihr gelesen, hat sich nicht ergeben, vielleicht wollte ich auch nicht.
    Ich kann mich gut in deine Abwehrhaltung versetzen, kenne ich auch aus meiner Sturm- und Drangzeit, wenn etwas aufdiktiert wurde, was man eigentlich nicht wollte.

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  11. Gisela Benseler schreibt:

    „Stickig“? Ich war nur froh über die reine stürmische Seeluft und daß es trotzdem noch eine kleine „Heil-e“ Welt gab.🌈🌞💦🌱
    Und Lesen war nicht „mein Ding“.

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