„Nun hast du einen Haufen Sachen über Samothrake erzählt, aber das Wichtigste hast du vergessen“, tönt Dora. – „Und das wäre?“ frage ich ein bisschen begriffsstutzig zurück. – „Die Menschen!!“ – He? Hab ich die wirklich vergessen? „Aber ich hab doch von Karen erzählt und auch von den Leuten, bei denen ich mich einquartiert habe“, verteidige ich mich. – „Schon. Und all die anderen? Sind die etwa weniger bedeutsam als deine Steine und Platanen und Ziegen?“ – „Nein, natürlich nicht, Dora, ganz im Gegenteil! Menschenbegegnungen sind für mich immer das allerwichtigste, wenn ich auf Reisen gehe.“ – „Na also!“ trumpft Dora auf. „Dann erzähl mal von Sonja und von Maria und von Ana und von Renzo und von Kritou und von der anderen Maria und von Irene und … !“
„Nun mal langsam, Dora! Unmöglich kann ich von allen Leuten erzählen, die ich in der Woche auf Samothrake getroffen habe. Lass mich mal überlegen …
A. Also gut Sonja, die Armenierin, die mit ihrem griechischen Mann im Bergdorf Profitis Elias eine Taverne betreibt und die tollsten Tierskulpturen aus Zement herstellt!“ – „Genau!“ kräht Dora. „Die Frau hat Mumm!“ Ich lächle. Den Ausdruck habe ich lange nicht gehört, er gefällt mir, und er passt so gut auf Sonja, die mir auf Befragen gern erzählt, dass sie aus Erivan stammt und ihr Vater ein handwerklicher Alleskönner war. Was immer er in die Hand nahm, wurde perfekt. In Erivan lebt nun ihre Tochter, studiert dort. Ihr Heimweh wird gemildert dadurch, dass es hier „genauso“ sei, dieselben Berge – und sie macht eine weite Bewegung hinauf zum Gipfel des Gebirges. ….Auf den Winter freut sie sich. Weniger Arbeit in der Taverne, mehr Zeit für ihre Kunst.
„Komm, lass uns spielen!“ kräht Dora vergnügt. „Du sagst ein Tier, das dir am besten gefallen hat, dann sage ich dir meins, und dann sagst du wieder deins, und dann ich…“
„Der Pfau!“ rufe ich – „Die sexy Fröschin“ echot Dora. – „Das Zebra“ ich – „Die andere Fröschin!“ – „Die sehnsuchtsvolle Giraffe“ ich – „Der Specht, der dem Baum die Zähne putzt!“ Dora — – „Der Truthahn“ ich – „Die drei Muskeltiere“ Dora….
Meine Reihe Doras Reihe
„Alles zusammen!“ ich –
„Alles zusammen!“ Dora.
Wir sind uns einig. Sonjas Kunst ist cool!
B. Maria ist im Gegensatz zu Sonja eine „Einheimische“ im strengsten Wortsinn, lebte aber lange bei Offenbach, war mit einem Deutschen verheiratet und wohnt die meiste Zeit des Jahres in Athen. Bei einem abendlichen Spaziergang im Zentraldorf Chora lerne ich sie kennen, als ich vor einem Häuschen stehenbleibe, das ein privates Volkskundemuseum zu sein scheint. Die Dame des Hauses spricht mich auf Deutsch an, wir kommen schnell ins Gespräch. Denn über dieses Haus und diese Insel zu berichten, ist ihre Leidenschaft. In einem winzigen Zimmer – sie zeigt es mir – wurde sie geboren. Ihr Vater hat das Haus, das der Großvater baute – oder war es der Urgroßvater, der von Beruf Notar war – ihr Vater also vergrößerte es, stattete es mit dem Nötigsten aus. Maria ist mein Jahrgang. Sehr früh schon begann sie zu zeichnen, zu ordnen und bewahren, was es an Sitten, Gebräuchen, Gerätschaften, Trachten, Liedern, Tänzen … gab. Sie arbeitete mit der großen Choreographin Dora Stratou zusammen, der die Erhaltung der griechischen Volkstänze zu verdanken ist. Im Laufe der Jahre entstanden außer dem kleinen Heimatmuseum Broschüren, Bücher, CDs, Videos, Gemälde. Maria wurde bekannt, geehrt (u.a. vom deutschen Botschafter) und nicht müde zu erzählen und zu zeigen, wie diese ihre Welt einmal war.
„Und?“ frage ich Dora, als wir in den dunkelnden Abend hinaustreten. „War das was?“ – „Nicht schlecht!“ kräht Dora. „Nette Frau!“. Heimatkundliches ist Dora ziemlich egal, stelle ich betrübt fest, aber Maria als Briefmarke hat ihr doch Eindruck gemacht.
C, D, E…
Ana aus Valencia, unterrichtet Philosophie an der gymnasialen Oberstufe, ist ich weiß nicht wie lange schon mit einem alten Kleinbus allein unterwegs, hat in der Heimat ein Stück Land gekauft, das sie bestellen will, und interessiert sich daher für Masanobu Fukuoka. Ich freue mich, ihr von Panagiotis Manikis, Schüler Fukuokas, erzählen zu können, der dessen Methoden der natürlichen Landwirtschaft seit vielen Jahren in Griechenland verbreitet, und ihr Kontakte vermitteln zu können. (Ich berichtete im Mai davon).
Karen hat uns miteinander bekannt gemacht.
Maria, die Inhaberin-Kellnerin meines Lieblingscafes in Kamariotissa, wo ich zum Frühstück gern Joghurt mit Honig aß und, wenn sie Zeit hatte, ein bisschen schwätzte …
Renzo aus Rom. den ich auf der Hinreise auf der Fähre kennenlernte und auf der Rückreise wieder traf. Mit einem Freund trampte er durch Griechenland, war auch in der Mani (!) und nun, nach einer Woche Samothrake, auf dem Weg nach Istanbul. Der Freund war ständig am Tagebuch schreiben und aquarellieren, Renzo liebte es, sich in der Zwischenzeit mit mir zu unterhalten. Und so erfuhr ich, wie es heutzutage mit dem Trampen geht, und konnte es vergleichen mit meinen eigenen Erfahrungen als junger reiselustiger Mensch.
Bleiben all die anderen, deren Wege sich mit meinemWeg kreuzten, an deren Namen und Persönlichkeiten ich mich zwar erinnere, von denen ich aber keine Fotos habe: der Ingenieur, der unser Grundstück vermaß, die Notarin, die den Schenkungsvertrag vorbereitete, der Busfahrer, den ich nach 23 Jahren wiedererkannte, die Taxifahrerin, die mich auf einer heißen Landstraße aufsammelte und mir für alle Fälle ihre Visitenkarte gab, der Wächter des Heiligtums, der schon seit 30 Jahren dieser Arbeit nachgeht, die Athenerin, die nun als Heilkräuterfrau auf der Insel lebt und ein Stück weit neben mir auf der Landstraße wanderte ….
„Du hast Recht“, stimme ich Dora zu. „Die Menschen sind am Ende doch das Wichtigste. Was wäre mir die Natur, was die Geschichte, gäbe es nicht die Menschen. Manchmal bin ich sehr gern allein, manchmal gehen die Menschen mir auf die Nerven, manchmal machen sie mir Angst – aber ohne sie wäre das Leben ganz schön öde. “
Ein wundervoller Erlebnis-Bericht. Sehr interessante Personen alle, die du beschreibst., eine bunte vielfältige Welt, die du wahrgenommen hast, liebevoll beschreibst. Anstrengend, unterwegs zu sein, aufmunternd wohl. In kleinen Dosen zu genießen, Neues zu entdecken und Vergangenes zu erledigen. Geistige un körperliche
Beweglichkeit zu erhalten.
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Danke, liebe Afrikafrau..
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Wieder macht es so viel Freude mit Dir unterwegs zu sein!!Danke für diese bunte Vielfalt…mit Dora!
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Danke, Sigrid! Dank und Freude sind ganz meinerseits!
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Liebe Gerda, soo schön (!) mit dir zu reisen. Ein Name, Dora Stratou, weckte in mir eine ganze Flut von Erinnerungsbildern: Während meines Studiums in Athen ging ich in JEDE Vorstellung ihrer sagenhaften Tanzgruppe !! Zu erleben war da– Tanz als eine sehr eigene SPRACHE . Auch Doras zum Teil sehr jungen Musiker waren faszinierend, wenn sie ganz souverän auf ihren Instrumenten blitzschnell die schwierigsten Rhythmen wechselten, sich mitbewegten, sangen. Unvergesslich Doras jeweils Augen öffnende Einführungen…und dann treffe ich vor ein paar Tagen hier in Berlin zufällig einen Griechen, Generation der ersten Gastarbeiter, der mir freundlich, sein Fahrrad nebenher schiebend, den Weg zu einem Theaterzelt einer Wandertheaterguppe zeigt, deren Aufführung ich sehen wollte. ( Die spielten gerade Aischylos !!). Wir kommen ins Gespräch über Hellas…über Deutschland und wie es kam, dass er hierblieb…und u.u.u.. Und auch: über Dora Stratou !!!! ..Ihre klare, unbeugbare Haltung während der Militärdiktatur war ihm tief in Erinnerung…
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Liebe Elsbeth, ich danke dir sehr für deine ergänzenden und so lebensvollen Ausführungen! Wie schön, das du Dora Stratou selbst erleben durftest!
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Ach, wie toll, liebe Gerda! Du hast viel erlebt und eine vollgepackte Erinnerungskiste mit heimgebracht.
Sonjas Kunst ist cool! Das hast du geschrieben und ich stimme Dir gerne zu.
Farbenfreudig und sehr originell sind ihre Kunstwerke und sie gefallen mir sehr.
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Da hast du eine Reihe toller Menschen getroffen und wunderbare Kunst obendrein gefunden. So schön, diese lebendigen Figuren, die machen richtig Spaß! Da würde mir die Wahl auch sehr schwer fallen.
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