Die Skizze mache ich in Kassel, als ich im Garten der Alten Brüderkirche sitze, leicht erschöpft von meinem fruchtlosen Documenta-Rundgang. Um mich herum herrscht heiteres Leben: Eine fein gekleidete, lässige Hochzeitsgesellschaft, Kinder, Kaffeetanten. Ein Kleinstkind besteht darauf, wieder und wieder dieselbe Stufe zu erklimmen, ein anderes rennt auf schwankenden Beinchen rund durch den Garten vor der ihr nacheilenden Mama her,..
Im Inneren der Kirche habe ich zuvor riesige Tapisserien angeschaut: nette Bömbchen fallen aus gestickten Flugzeugen, ein plüschiges Kriegsschiff geht in Flammen auf, Krieger und Flüchtlinge eilen durch fein gewebte Nächte…
Auch eine Familie aus Origon gibt es zu bestaunen – aus tausenden Stichen fein zusammengefügt die lächelnde Hausfrau, das schüchterne Töchterchen, die Katze unter dem Couchtisch, das Stickbild über dem Sofa und das Kriegsspielzeug in der Hand des behäbigen Hausherrn.
Aus dem Altarraum grüßt eine kriegerische Mickymaus.
Ich bin am Morgen ohne Programm losgezogen, in der irrigen Annahme, dass ich unterwegs Info-Material und Hinweisschilder auf die documenta finden würde. Und die Besucherströme würden mich zu den Attaktionen führen. Weit gefehlt. Kassel will seine documenta offenbar nicht mehr kennen.
Ich stieg am Rathaus aus der Straßenbahn, doch weder drinnen noch draußen findet sich irgendein Hinweis auf die documenta. Nur dass Kassel eine „Kulturstadt“ sei, wird mir plakativ angezeigt. Im Rathaus überraschen mich die Boukephaloi (bekränzte Stierköpfe) – Symbol aus hellenistischer Zeit, das mir schon an Augustus‘ Grabmal in Rom auffiel, das hier aber völlig deplaziert wirkt – dazu Schmuckmotive unbekannter Provenienz (indianisch?), ein Basrelief mit einem wohlgeformten nackten Reiter und vor dem Eingang eine rüstige Frau, die zwei Kleinkinder hinter sich herzieht – vermutlich eine Erinnerung an einen der vielen Kriege, die Kassel zugesetzt haben. Falls du es nicht weißt: Alliierte Fliegerbomben haben die Stadt und einen Großteil seiner Bevölkerung in einer Nacht, am 22. Oktober 1943, ausgelöscht. Es sind mühsam aus denTrümmern zusammengeklaubte Erinnerungsstücke aus einer anderen Zeit, die das Rathaus schmücken.
Da niemand die documenta zu kennen scheint, wandere ich auf gut Glück los. Und gerate als erstes an das Denkmal, das die Stadt den toten Kriegern der beiden Weltkriege errichtet hat. Schön ist es nicht, dafür aber riesig. Es dominiert die weitläufige, unter der Sommerhitze verdorrende Wiesenfläche vor der Orangerie. Die Stadt entschuldigt sich dafür, die Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit Tafeln ihrer Wehrmachtseinheiten zu ehren, man habe, da ja auch die Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen habe, jedenfalls darauf verzichtet, diese Tafeln zu reinigen…… O weh!
Kontinuität ist dennoch gefragt, und so prangen die Daten der beiden Kriege in denselben martialischen Lettern rechts und links am symmetrischen Bau. Man beachte auch die streng symmetrische Anordnung der Jahreszahlen.
Der tote Krieger des 1. Weltkriegs; den die Nazis nicht heldenhaft genug gefunden und daher mit Erde bedeckt hatten, wurde inzwischen wieder ausgegraben.
Ich bin allein. Niemand ist auf der weiten verdorrenden Wiese zu sehen. Nur am Bächlein weit unten sehe ich ein paar Figuren – dazwischen ein einsamer überquellender Papierkorb (s.o.) . Ich mache mich auf den Weg hinunter und treffe auf einen aus Altkleiderballen gefertigten Unterstand. Elegant gekleidete, in bestem Oxford-Englisch parlierende Schwarzafrikaner informieren mich im Inneren, wo ich auf einer der bereitstehenden Holzbänke Platz nehme, per Video darüber, was es mit dem Altkleiderhandel in Afrika auf sich hat. Dass er die lokale Textilindustrie zerstöre, dass es eine Frage der Würde sei, originale Kleidung zu tragen, dass eine mächtige US-Altkleider-Lobby die Versuche der Afrikaner, sich von der Pest des Handels mit gebrauchter Kleidung zu befreien, konterkariert habe, indem sie bei Trump vorstellig wurde … Nun, mag ja sein, doch ist das nun ein zeitgenössischer Beitrag afrikanischer Künstler? Wurden diese Videos womöglich in London oder Los Angeles gedreht? Und die großen Altkleiderballen und der Plastikschrott – wie kamen die auf die Kasseler Wiese?
Immerhin weiß ich nun, dass der Altkleiderhandel in Afrika ein Thema zu sein scheint, und damit bin ich informierter als zuvor. So bereichert wandere ich weiter zur Orangerie. Aber die ist geschlossen – im Umbau. Die elegante Dame, die den Eingang hütet, weiß nicht, wo es Ausstellungsräume der documenta gibt. Infomaterial hat sie keins. Zum Glück bin ich nahe an der Fulda, und so wandere ich an ihrem Ufer dahin, zwischen leeren roten Liegestühlen, die von Kassel schwärmen (Wow!), vielsprachigen Toilettenhinweisen, im Auf- oder Abbau befindlichen Zelten und Imbissbuden …
Ein feiner Spaziergang, denn die Fulda ist schön, und schattende Bäume gibt es auch.
Und so lustwandelnd gelange ich schließlich zur Alten Brüderkirche – wo ich, nachdem ich mich an den kriegerischen Tapisserien sattgesehen habe, neben einer fröhlichen Hochzeitsgesellschaft sitzend eine etwas erschöpfte Skizze von meiner Espressotasse samt Zubehör mache.
Documenta war einmal.
Hat dies auf Blütensthaub rebloggt.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Auf deinen Bildern sieht die Stadt recht leer aus. Hast du vermieden Menschen auf den Fotos zu haben oder war es tatsächlich so ruhig und friedlich wie es aussieht? Liebe Grüße
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Ja, es war sehr ruhig. Nur auf den Hauptstraßen war mehr los. Im Rathaus, in der Orangerie, in der Tapisserie-Ausstellung und beim Kriegerdenkmal.war ich allein. In der Altkleider-Bude saßen ein paar stille Zuschauer auf den Bänken, und in den Auen und am Ufer der Fulda gabs ein paar Spaziergänger. Vor einem Eingang zu einer Kunstpräsentation saßen fünf junge Menschen und warteten auf Einlass. Es konnte immer nur einer rein, und ich hatte keine Lust zu warten. .
Mein Besuch der Documenta ist natürlich nicht repräsentativ, sondern sehr persönlich. Ich hätte bei mehr Engagement und besserer Planung sicher mehr gesehen.
Gefällt mirGefällt 3 Personen
Ohne Planung geht da wohl nichts!
Bei solch vielfältigen Angeboten.
Ich bin nicht hin, eben, weil ich nicht den netv hätte, den Besuch gebau zu planen.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ich denke, wenn eine Stadt so etwas ausrichtet (und zwar zum 15. Mal), sollte sie auch in der Lage sein, dem spontanen Beucher eine Handreiche zu geben.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ich habe viel zu viel Angst vor Zuviel !!
Mir reichte schon eine Max-Ernst-Ausstellung in Biel (?!) in den Neunzigern, in ZWEI Häusern nebeneinander.
Natürlich kann man sagen: Suche sich jeder was raus! Aber wozu dann hunderte kleinformatige Drucke/Zeichnungen?
Gefällt mirGefällt 1 Person
Kann gut möglich sein. Oft aber sind die nicht geplanten Besuche schöner. Vielleicht sieht man weniger oder besser…man sieht andere Dinge. Mir gefällt deine Schilderung.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Irgendwie surreal …
Außer der Mosel … LG😉
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Fulda. 😉
Gefällt mirGefällt mir
😭
Gefällt mirGefällt 1 Person
Imponierender Stimmungsbericht von der Dokumenta. Ich war da schon ewig nimmer. Die aktuelle „Kunst“ finde ich zumeist abstoßend.
Deine Informationen und Ansichten genieße ich aber fast immer 🌟
Dankeschön dafür!
Herzliche Grüße vom Lu
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Ja, ein Stimmungsbericht ist es, und natürlich keinesfalls repräsentativ. Frühere documenta-Veranstaltungen fand ich durchaus anregend. Besonders wichtig war mir die vorige, die teilweise in Athen stattfand und Gelegenheit bot, das EMST (Museum für Zeitgenössische Kunst) einzuweihen. Ich habe darüber mehrmals berichtet. https://gerdakazakou.com/2017/04/29/besuch-im-emst-eine-einleitung-zur-documenta-14-in-athen/.
Gefällt mirGefällt 4 Personen
Dankeschön für Infos und Link!
HG vom Lu
Gefällt mirGefällt 1 Person
gern! 🙂
Gefällt mirGefällt mir
🕊🎶🎵🎶🎶🎵🎵🐦
Gefällt mirGefällt 1 Person
Das empfinde ich grundsätzlich keineswegs so…
Gefällt mirGefällt 1 Person
Das dachte ich mir…
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Echt?! So weit kennst du mich? 😀
Gefällt mirGefällt mir
Na ja, was heißt kennen … Vermutung halt.
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Ich habe schon sehr gute Gegenwartskunst gesehen: Im Deutschherrenhaus in Koblenz, im MMK Frankfurt, in Bonn (!). Allerdings ist diese Kunst oft nicht selbsterklärend. Das fing ja auch schon bei Beuys an.
Ohne etwas Befassung erschliesst sich diese Kunst meist nicht.
Darin gebe ich Dir recht. Ästhetisch ist sie meist nicht.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Da hast du vollkommen recht!
Dankeschön für deine Hinweise.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Danke, Gerhard, „Nicht selbsterklärend“ – genau. Man muss sich mit ihr ernsthaft befassen. Von den Künstlern verlange ich umgekehrt, dass sie sich auch ernsthaft mit ihren Adressaten befassen und ihnen nicht zuviel zumuten.. Denn bei politischer Kunst hast du es mit Addressaten zu tun, bei „herkömmlicher Kunst“ mit Käufern und Konsumenten.
Gefällt mirGefällt 1 Person
An der Stelle möchte ich mich an zwei, drei Ausstellungen erinnern: Eine von Cindy Sherman in Madrid, in den Neunzigern. Da stand: Kinder nicht mitnehmen. Es gingen aber ganze Familien rein.
Eine andere, eher witzigere Variante waren Fotos in Porto/Portugal, von Thomas Ruff: Da rannten Frauen raus, weil da verschwommene Männer-Liebesakte zu sehen waren.
In Paris sah ich mal eine Ausstellung, wo es um Gewalt ging, auch und gerade Frauen gegenüber. Einen kleineren Text las ich und dachte: Das darf kein Kind lesen!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Für mich ist Gegenwartskunst – also die Kunst gegenwärtig lebender Menschen – die wichtigste überhaupt. Und die Auseinandersetzung mit ihr von größter Bedeutung. Gerade darum macht es mich traurig, dass die Documenta diese Chance nicht mehr wirkungsvoll ergreift. Es ist eine schwere Verantwortung, und eine Riesenherausforderung, eine solche die zeitgenössische Kunst dokumentierende Veranstaltung zu gestalten, und es geht sicher nicht in einem feindseligen oder/und gleichgültigen gesellschaftlichen Klima. . Ich mache der zurückgetretenen Managerin wahrhaftig keine Vorwürfe wegen ihres Scheiterns.
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Ich war nicht dort, zuviel anderes um den Kopf.
So manche politische Aussage von gegenwärtiger Kunst kann richtig stark treffen. Die trifft wesentlich stärker als vergangene Kunst, die in Teilaspekten zu ihrer Zeit ästhetisch Neues bot.
Aber wie ich schon sagte: Man braucht Zeit, um sich auf Gegenwartskunst einzulassen. Im Vorübergehen ist sie nicht zu erhaschen! Das wäre im Grunde dann auch zu billig.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ja, die heutigen Künstler sind oft sehr direkt in ihrer politischen Aussage. Genau das ist auch das Problem: sie verlassen ihr Metier und werden zu politischen Agitatoren, ohne freilich die Verantwortung von Politikern zu tragen. Wenn sie dafür auch noch aus dem staatlicheen Topf finanziert werden wollen (wie bei der Documenta), wird es sehr widersprüchlich.
Ich bin aber keineswegs ein grundsätzlicher Verächter zeitgenössischeer Kunst, ganz im Gegenteil!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Was für eine Mischung, liebe Gerda. Ein zwiespältiges Allerlei… Eine gute Reise Dir noch und freundliche Einblicke!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Danke, Sabine. Zwiespältig, das stimmt!
Gefällt mirGefällt mir
Ein feiner Stimmungsbericht, oh ja, liebe Gerda. Seltsam, daß die Documenta so stillschweigend präsentiert wird. Meist hängen die Städte doch voll von ihren eigenen Veranstaltungen.
Ein weniger zielstrebiger Mensch als Du hätte resigniert und seine ursprünglichen Wünsche zur Besichtigung ad acta gelegt.
Ich hatte eine graue Star OP vorgestern. Deshalb war ich so still und bin es noch immer, aber nicht mehr mäuschenstill *g*
Liebe Grüße von mir und Deine Skizze mit den dazugehörigen Sätzen finde ich toll 🙂
Gefällt mirGefällt 1 Person
Danke dir, liebe Bruni! Von deiner OP las ich schon auf deinem Blog, konnte noch nicht antworten (auf dem Handy geht es nicht). Ich hoffe, du hast alles gut überstanden!
Gefällt mirGefällt mir
Eigentlich schon…
Gefällt mirGefällt 1 Person
und uneigentlich?
Gefällt mirGefällt 1 Person
Gute Besserung!!
Gefällt mirGefällt 1 Person
Das zweite Auge…
Gefällt mirGefällt 1 Person
Ojeh !
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Da bin ich jetzt ein wenig bammelig
Gefällt mirGefällt 2 Personen
Wäre ich auch sehr.
Viel Gottvertrauen 🙂
Gefällt mirGefällt 2 Personen
O ja, Bruni, das versteh ich. Ich hab mich noch nicht ma an die erste OP der Augen gewagt und sage: noch sehe ich ja ganz gut.
Gefällt mirGefällt 1 Person
seufz. Kouragio! (Mut)
Gefällt mirGefällt mir
Deine Zeichnung gefällt mir am besten.
Gefällt mirGefällt 1 Person
Dankeschön, das freut mich!
Gefällt mirGefällt mir
☺️
Gefällt mirGefällt 1 Person
Tja, sagte ich auch anfangs, liebe Gerda…
Gefällt mirGefällt 1 Person
Pingback: Documenta und Krieg in Kassel (und tägliches Zeichnen) — GERDA KAZAKOU – #KUNST