Ich sitze halb liegend auf einem Stuhl oben auf der Turmterrasse und faulenze. „Heute ist schon der sechste Juli“, höre ich Doras Stimmchen wie von weit durch den endlosen Zikadengesang des Sommers zirpen. „Hm“, mache ich und betrachte meine Knie in den weißen Leinenhosen, die ich in Perugia erstand – zwei schneeige Hügel vor der Landschaft dahinter: das auf den Eisenbetten ausgebreitete bräunliche Moskitonetz, die mattgrünen Olivenhaine, die Berge im Dunst, das Meer. Die Bläue des Tages liegt über allem und färbt es ein.
„Hast du mich ganz vergessen?“ klagt Doras Stimmchen. „Als ob ich nicht mehr wäre! Dabei bin ich doch noch, oder?“ – „Hm“, mache ich. Was bedeutet schon Zeit, wenn der Sommer herrscht? Sie ist egal. Jeder Tag ist gleich, denke ich. Jede Nacht auch. Ach ja, die Nächte… der Mond, dieser unentwegte Zeitmesser, ist noch nicht zur Hälfte angewachsen, bis zum Vollmond hat es noch gute Weile….
„Deine Leserinnen und Leser vermissen mich sicher“, höre ich nun Dora. „Ich glaube, ich muss dir mal ein Ereignis schicken, damit du was zum Erzählen hast.“ – Diese Dora, denke ich schläfrig. Immer eifrig…. Kaum habe ich ausgedacht, ist es auch schon da: das Ereignis. Es hat die Gestalt eines Rosenkäfers, der sich auf meiner weißen Leinenhose niederlässt … und dort sitzenbleibt.
Und nun? Irgend etwas muss nun geschehen. Ein Ereignis. Ich schaue genauer hin. Hatte ich einen Fleck auf der Hose? Ganz offensichtlich ist da ein Fleck. Der Käfer macht saugende Bewegungen, als ob er sich an einem köstlichen Saft delektierte. Ist das ein Saubermach-Rosenkäfer? Merkwürdig, anstatt kleiner wird der Fleck, der vorhin noch gar nicht da war, größer, breitet sich aus. Das Tier saugt – oder würgt es? Es rührt sich kaum, nur ein Füßchen stellt es einmal um – dann herrscht Ruhe. Ist der Käfer etwa auf meinem Knie verstorben?
Ich sitze und starre. Nichts. Ich bewege mein Knie leicht. Nichts. Soll ich den toten Käfer vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger ergreifen und hinuntertragen, auf dass er im Gras seine letzte Ruhestätte findet? Ach was. Ich werde einfach aufstehen, er wird herunterfallen, dann fege ich ihn weg wie einst die Bedienerin in Gregor Samsas Familie:
»Tot?« sagte Frau Samsa und sah fragend zur Bedienerin auf, trotzdem sie doch alles selbst prüfen und sogar ohne Prüfung erkennen konnte. »Das will ich meinen,« sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein großes Stück seitwärts. (Franz Kafka, Die Verwandlung, entstanden 1912, erstmals veröffentlicht 1915 von Rene Schickele, Die Weißen Blätter, 2. Jg Heft 10)
Ich stehe also auf. Da breitet der Rosenkäfer seine kräftigen Flügel aus und fliegt, wie mir scheint ein wenig empört, auf jeden Fall höchst lebendig, in großem Bogen hin zum Aprikosenbaum. Ich aber kümmere mich um den Fleck. Wird er sich entfernen lassen? Und ob! Den Wasserschlauch draufhalten, und schon ist er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Nun sinniere ich: was war es, was der Käfer auf meinem Hosenbein trieb? Waren es vielleicht seine Nachfahren, die er mir anvertrauen wollte und die ich mit einem kräftigen Wasserguss in die Ewigkeit beförderte?
„Na, war das was?“ kräht Dora fröhlich und verscheucht den Anflug düsterer Gedanken. „War das ein Ereignis?“
Klasse Geschichte und Rosenkäfer mag ich besonders 😉
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Danke, Arno!
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Und ob das ein Ereignis war! Es führte gar bis zu Franz K….Bravo, Dora, schön, dass Du wieder da bist!
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Dora bedankt sich artig fürs freundliche Willkommen!
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Dora sorgt wieder einmal für Spannung😊
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Ich habe Dora vermisst – in diesem Sinne bedeutet ja Zeit doch etwas! Schöne Fotos.
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Ich habs ausgerichtet. Sie war doppelt erfreut, denn Zeit beginnt ihr problematisch zu werden.
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Bleibst du etwa eisern bei deinem Vorhaben 😦 … Dora ist doch toll. Viele Grüße!
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und Du hast sie einfach alle weggespült….Gerda, Gerda
Hoffentlich kommt da keine Rosenkäferrache 🙂
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