In dieser einfachen Zeichnung möchte ich drei Elemente isolieren, um sie näher zu betrachten. Ich nehme die Zeichnung, digitalisiere und „seziere“ sie.
1) Da ist zum einen die Linie (vergleichbar dem Knochenbau samt Sehnen, Muskeln und Nervensträngen). Dem Verstand reicht die beschreibende Linie, den Rest ergänzt der Betrachter leicht aus seiner Erfahrungswelt. Mehr als die Linie braucht es nicht, damit man „erkennen kann“, worum es sich handelt, im vorliegenden Fall: Vase, Früchte, ein Tisch, eine Unterlage, ein Regal….
2) Im Original gibt es darüber hinaus ein paar halbwegs „ausgefüllte“ Flächen. Diese „Ausfüllungen“ (quasi das Fleisch der Zeichnung) sind, wenn man sie isoliert betrachtet, recht sinnloses Gekritzel. Freilich kann man, wenn man will, auch mit ihnen eine Bedeutung verbinden, zB „Spuren im Schnee“ oder „Schattenspiele unter der Wäscheleine“ oder „verkleckertes Tischtuch“. Offenbar sind die „Ausfüllungen“ so unbestimmt, dass etliche Assoziationen mit realen Erfahrungen möglich sind. Sprechen die beschreibenden Linien den Verstand an, so sprechen diese „Ausfüllungen“ die Fantasie bzw das Unterbewusste an – ganz ähnlich dem Rohrschachtest.
3) Als drittes Element wirkt die Farbe (vergleichbar dem Blut und den Säften). Farbe spricht das an, was man gemeinhin die Empfindung nennt: Goldgelb hat eine irgendwie fröhliche, positive Schwingung, nicht wahr? Nicht für dich? Dann liegt es an der Unvollkommenheit der Abbildung. Denn wenn du die Augen schließt und dich der Vorstellung einer goldenen Schwingung hingibst, wirst du sicher nichts Unangenehmes empfinden, sondern Heilung und Glück.
1+2+3) Ich habe nun die drei isolierten Elemente – beschreibende Linie, flächige Ausfüllung und Farbe – digital übereinandergelegt und wieder zusammengefügt.
Und nochmal die ganze Reihe im Überblick: Original – beschreibende Linie – Ausfüllung von Flächen – Farbe – Addition.
Obgleich am Ende dieselben Elemente in derselben Kombination wie im Original vorhanden sind, ist das Leben gewichen. Das jedenfalls ist mein Empfinden. Ob ich es rüberbringen konnte, obgleich ja hier auch das Original nur als digitale Abbildung anzusehen ist?
Was ich zeigen wollte:
Zerstückelst du, was sich lebend entwickelt, hast du nur totes Zeug in der Hand. Das gilt für eine einfache Handzeichnung. Wieviel mehr gilt es für Lebenszusammenhänge und lebende Organismen!
….Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
(J.W.Goethe: Urworte – orphisch)
Das ist interessant. Mein Problem dabei ist, dass ich mit den abgebildeten Dingen nicht viel anfangen kann. Obst, Tische….
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Kommt es auf die abgebildeten Dinge an? Nicht das Was, sondern das Wie zählt in der Kunst. 😉
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Für manche Künstlerinnen ist das sicher so, aber von der Betrachterseite ist es doch wieder anders denke ich.
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Du berührst eines der komplexesten Phänomene des Denkens und Fühlens überhaupt – die Abstraktion, das Analysieren, die darauffolgende unzureichende Synthese, das Verstehen und Übergehen, Hinwegsehen … in einer sich langsam beginnenden Form des Denkens werden Begriffe im Sinne des Begriffenen erfundenen, angeschmiegt und weiterentwickelt, statt starr über das Vorhandene gestülpt zu werden. Mich hat diese Untersuchung sehr an Wassily Kandinsky: „Punkt und Linie zu Fläche“ erinnert, obzwar mit ganz anderen Konklusionen! Fröhliche Grüße!
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Danke, Alexander! Vielleicht schaue ich mal wieder bei Kandinsky rein.Das schöne Büchlein muss hier irgendwo in einem Regal stehen….
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Ja, Goethe hat recht!
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Hast Du gut gezeigt und erklärt, vielen Dank. Der Unterschied zwischen dem analogen Original und dem wieder zusammengesetzten digitalen Bild ist sicher größer und besser zu erkennen.
Liebe Grüße, Lyrix 😃
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genau! Das Original ist eben doch noch mall was anderes als die digitale Wiedergabe. Danke für dein feed-back!
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Der Alte wusste schon, was wesentlich ist und konnte es auch noch schön ausdrücken.
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