Was ist Wirklichkeit (Zwiebelblüte und ein bisschen Philosophie)

Ich nehme an, du hast bisher nie das Aufblühen einer Küchenzwiebel verfolgt. Ich selbst bin eher durch Nachlässigkeit drauf gestoßen: Eine Freundin, die gelegentlich das Haus putzt, hatte die zwei Blumentöpfe mit Zwiebeln vor die Hauswand gestellt – und ich ließ sie da. So wuchsen sie vor sich hin. Als ich sie näher betrachtete, gefielen sie mir, und ich begann, sie ab und an zu gießen. Dann kam Dora dazu, die die Zwiebelsprosse als Messlatte benutzte. Und nun schaue ich zu, wie sich das Knospenbündel aus der Hülle herausarbeitet, und bestaune die überraschend schöne Zeichnung der Knospen.

Heute weht ein leichter angenehmer Wind und bewegt das Laub des Aprikosenbaums, das in schnellem Wechsel Licht und Schatten über die Zwiebelköpfchen wirft und auch diese selbst hin- und herschwanken lässt. Ich fotografiere aus immer derselben Position die bewegten Bilder – selbst bleibe ich möglichst bewegungslos.

Wirklichkeit – so schrieb ich zuvor auf Myriades Kommentar zur „Relativität“ hin – konstituiere sich erst in der Interaktion. Was ich hiermit demonstrieren möchte: Wind und Windstöße – Sonne – Laub – Gezweig – Schattenwurf – Licht – Stängel – Knospen – ich – meine Position – Handy-Kamera – Luftdruck – Schwerkraft – Bewegungsgesetze – Elastizität – die Zwiebel schwankt, meine Hand ist instabil  — all das  interagiert. In der Interaktion all dieser „Faktoren“ (die nur durch mich und meine Sprache als Faktoren isoliert werden) erschafft sich Wirklichkeit ständig neu und bringt sie zur Erscheinung. Ohne die Interaktion gibt es „nichts“*. Die subtilen Bewegungen und Lebensprozesse wie etwa Wachstum und Absterben und die noch subtileren des Fühlens und Denkens sind da noch gar nicht einbegriffen. Die musst du dir dazudenken.

…………..

*Das Johannes-Evangelium beginnt mit dem Satz: „en archi ein o Logos“ (von Luther als „Am Anfang war das Wort“ übersetzt). Logos  wurde von Herakleitos (Heraklet, 6.-5. Jahrhundert v.Chr.) in die griechische Philosophie eingeführt. Eine Übersetzung, die die gesamte Reichweite des Begriffs impliziert, ist unmöglich. Goethes Faust übersetzt Logos als Tat. Tatsächlich aber bedeutet Logos im Griechischen auch das „Verhältnis“ zweier Größen, ausgedrückt als Bruch, zum Beispiel 3 : 4. Die Harmonie des Kosmos beruht auf solchen „Verhältnissen“ oder Relationen, die auch als „Taten“ oder eben als „Interaktionen“ bezeichnet werden können (Die Rechenarten heißen im Griechischen praxeis, also „Taten“ wie im Deutschen „Praxis“) .  Johannes, der noch viel von der griechischen Philosophie verstand,  sagt also: Am Anfang von all dem, was entstanden ist, war der Logos (die Relation), und der Logos war seinerseits bezogen auf Gott. Alle anderen Relationen (Gesetze der Natur und des Kosmos) entstanden wiederum in dieser Bezogenheit, nichts entstand und entsteht isoliert, ohne diesen ersten Bezug.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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15 Antworten zu Was ist Wirklichkeit (Zwiebelblüte und ein bisschen Philosophie)

  1. afrikafrau schreibt:

    Ganz im SinneMasanobu Fukuokas – lese ich gerade- seine Philosophie erstmal – danach folgen noch eine Lieferung (2 in englisch)

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    • gkazakou schreibt:

      o, und ich habe sein Buch (seine Philosophie) noch kaum angelesen. Da bist du mir im Verständnis schon voraus. Um so mehr freut es mich,wenn meine Gedanken mit seinen zusammenfließen.

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  2. Verwandlerin schreibt:

    Ach, Gerda – wie schön: Schönheit der Natur, Wachsen und Werden und Philosophie.
    Danke für deine Eindrücke und Gedanken!

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  3. Stefan Kraus schreibt:

    Ein ganz wunderbarer Beitrag, liebe Gerda!!

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  4. Gisela Benseler schreibt:

    Die Photos sind Dir wunderbar gelungen. Der Wind und das Schwanken der Stengel führte dazu. Die Blüten selbst sind ja unerwartet schön.

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  5. Anonymous schreibt:

    Danke für diese erhellenden Erläuterungen. Ich frage mich natürlich, ob Luther mit der Übersetzung von Logos als „Wort“ eine bestimmte Absicht verfolgte, oder es nicht besser wusste. Weißt du etwas darüber?

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  6. derdilettant schreibt:

    Danke für diese erhellenden Erläuterungen! Verfolgte denn Luther mit seiner Übersetzung eine bestimmte Absicht, oder war es Unkenntnis, weißt du etwas darüber?

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    • gkazakou schreibt:

      Weder noch, vermute ich. Er suchte eine überzeugende Übersetzung. Und für ihn war es dann „das Wort“ – was ja auch richtig ist. Nur greift es zu kurz, wenn es nicht in seinem vollen „Wortsinn“ verstanden wird. Wort ist Klang und Handlung, Wort ist Kommunikation, Übermittlung von Inhalt, Wort ist erschaffend, heilend, tötend. Wort setzt in Beziehung. Wort ist Name, Begriff, Bedeutung, Sinn. Wort ist Schwingung,Bewegung, Impuls. Wort macht das unsichtbare, hörlose Denken zur Botschaft. Das alles und viel mehr ist „Wort“.

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      • derdilettant schreibt:

        Danke für diese erklärenden Worte! Das zeigt mir mal wieder sehr schön, wie wichtig es ist Sprache zu hinterfragen und weiter zu denken, Assoziationsräume zuzulassen.

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  7. pflanzwas schreibt:

    In der Tat traumhaft schöne Blüten und deine Serie mit den verschiedenen Situationen gefällt mir sehr!

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  8. derschwarzekater schreibt:

    Sehr kluge Gedanken. Sie lassen mich an dieses Gedicht von Michael Ende denken – vielleicht kennst Due es noch nicht:
    „Der wirkliche Apfel

    Ein Mann der Feder, berühmt und bekannt
    als strenger Realist,
    beschloss einen einfachen Gegenstand
    zu beschreiben, so wie er ist:
    Einen Apfel zum Beispiel, zwei Groschen wert,
    mit allem, was dazu gehört.

    Er beschrieb die Form, die Farbe, den Duft,
    den Geschmack, das Gehäuse, den Stiel,
    den Zweig, den Baum, die Landschaft, die Luft,
    das Gesetz, nach dem er vom Baume fiel …

    Doch das war nicht der wirkliche Apfel, nicht wahr?
    Denn zu diesem gehörte das Wetter, das Jahr,
    die Sonne, der Mond und die Sterne …

    Ein paar tausend Seiten beschrieb er zwar,
    doch das Ende lag weit in der Ferne;
    denn schließlich gehörte er selber dazu,
    der all dies beschrieb, und der Markt und das Geld
    und Adam und Eva und ich und du
    und Gott und die ganze Welt …

    Und endlich erkannte der Federmann,
    dass man nie einen Apfel beschreiben kann.
    Von da an ließ er es bleiben,
    die Wirklichkeit zu beschreiben.
    Er begnügte sich indessen
    damit, den Apfel zu essen.“

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