Transformation oder Metamorphose? Mein 2. Beitrag zur Impulswerkstatt und zu Jürgens Projekt

In dieser Woche denken etliche, angeregt von Jürgen Küsters Fragen, über Transformation nach, so auch ich. Parallel dazu läuft mein Nachdenken über den Impuls, den Myriade in der Impulswerkstatt mit ihrem Foto gesetzt hat. Indem ich das eine mit dem anderen beleuchte, möchte ich meine Gedanken zum Unterschied zwischen Transformation und Metamorphose ein wenig sortieren.

Goethe: Urworte, orphisch:

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Auf diesem Bild kreuzen sich ein Lebendiges und ein Totes: starr zieht sich ein stachelbewehrter menschengemachter Draht von rechts nach links durchs Bild. In diesen Draht verflochten hat sich ein natürlicher samenbehängter trockener Grashalm, der unbeirrt vom Hindernis sein Wachstum nach Oben fortsetzt. Das Kreuz steht vor einem lebendig-lichtvollen grünen Hintergrund.

Die Samen des Grashalms werden, wir wissen es, ausreifen und ihren Weg ins Grün nehmen, wo sie, sofern es regnet, aufquellen und in den Boden sinken werden. Oder sie werden von Ameisen fortgeschleppt, von Vögeln aufgepickt und anderswo wieder auf den Boden entlassen. Um zu wachsen. Um Grashalm zu werden, zu blühen und Samen zu tragen.  Der Same wird eine Metamorphose, einen Formenwandel durchmachen und doch in allen seinen wechselnden Gestalten bleiben, was er ist – denn er ist lebendig. Warum das so ist, wie es geschieht und wozu – niemand kann das sagen. Es ist. Es geschieht. Es ist Natur.

Und der Stacheldraht? Er wurde von menschenerdachten und -gemachten Maschinen aus mehreren Drähten zusammengedreht und in gleichmäßigen Abständen mit einem durchaus kunstvoll gebildeten Stachel bewehrt. Das Material entstammt der Erde, es wurde vom Menschen gefördert und bearbeitet, es wurde transformiert, also umgestaltet, um einem bestimmten Zweck zu dienen. Man kennt, wenn man ein Mensch ist, das Wie und das Wozu (Tiere und Pflanzen kennen es nicht, sie können es nur als Hindernis wahrnehmen und sich dran verletzen). Transformation ist ein von einer höheren Instanz angeregter und kontrollierter, meist technischer Vorgang.

Metamorphose ist ein griechisches Wort und spiegelt den griechischen Geist, der idealerweise schauend-philosophisch orientiert ist. Er betrachtet die Dinge gern in ihrem So-Sein, ohne sie groß zu verändern. Seine Interventionen in die Welt sind leicht und möglichst im Einklang mit der Beschaffenheit des Ortes und der Natur. Du kannst nichts „metamorphosieren“. Das griechische Wort μεταμορφόνομαι (metamorphonomai) ist ein Relativverb, das weder aktiv noch passiv, sondern selbstbezogen ist. Goethe, der Liebhaber des griechischen Geistes, spricht daher von der „Metamorphose der Pflanzen“ , nicht von ihrer Transformation.

Transformation ist lateinisch und spiegelt den römischen Geist, der beobachtet, um zu machen, herzustellen, umzugestalten. Er ist auf Herrschaft, Kontrolle und technische Beherrschbarkeit angelegt. Die Römer bauten gerade Straßen, Kanalisation, Aquädukte, schufen Römisches Recht und setzten es überall durch, wo sie herrschten….  Transformieren kann ich nur, was ich zum Objekt machen kann. Denn transformieren ist ein transitives Verb: Ich transformiere etwas. Künstler transformieren Materialien und Formen in Kunstwerke, Politiker transformieren durch Gesetze und Vollzugsorgane Gesellschaften, Produzenten transformieren Bodenschätze mithilfe von Maschinen in Gebrauchsgüter etc pp. Immer ist es ein Agens („ein wirkendes, handelndes, tätiges Wesen oder Prinzip“, eine höhere Instanz), die auf etwas Niedrigeres, ein Objekt einwirkt und es umgestaltet.

Oft schon habe ich mich mit der unterschiedlichen Formensprache von Natur und Technik befasst. Nun aber möchte ich diese Gedankeen gern weiter ausbreiten und vertiefen. Dank sei dem doppelt gesetzten Impuls von Myriade und Jürgen!

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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36 Antworten zu Transformation oder Metamorphose? Mein 2. Beitrag zur Impulswerkstatt und zu Jürgens Projekt

  1. Mitzi Irsaj schreibt:

    Das Foto gefällt mir und deine Gedanken dazu waren sehr interessant. Mein Kopf ist heute ein wenig zu leer für eigene Gedanken, umso schöner den deinen ein wenig zu folgen. Liebe Grüße aus München

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  2. gkazakou schreibt:

    Danke, Mitzi. Ich versuche mich darin zu üben, mich nicht von den Weltgeschäften allzusehr beeinflussen zu lassen und den Ereignissen, die ich nicht beeinflussen kann, mit hängender Zunge hinterherzujagen.Leicht fällt es auch mir nicht 😉

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  3. juergenkuester schreibt:

    Hallo Gerda! Dank für diese klaren und ausführlichen Begriffsklärungen. Sie bringen mich und das Thema nach vorne.

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  4. Ulli schreibt:

    Mag ich, liebe Gerda! Weil ich nun zu meinem Beitrag noch etwas dazu lernen durfte. Danke dafür und herzliche Grüße
    Ulli

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  5. pflanzwas schreibt:

    Jetzt ist es auch bei mir angekommen 🙂 Wirklich gut erklärt. Spannend finde ich auch, den Ursprung der Wörter und ihre grammatikalische Form im Griechischen. Wie unterschiedlich die Dinge betrachtet wurden und werden. Danke Gerda, das war sehr hilfreich!

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  6. Myriade schreibt:

    Die Betrachtungen zur Unterscheidung von Transformation und Metamorphose finde ich wunderbar punktgenau formuliert, so schätze ich Definitionen !
    Ich erinnere mich, dass du dich mit der unterschiedlichen Formensprache von Technik bzw Mensch und Natur beschäftigt hast. Besonders lohnend finde ich das Nachspüren, wo menschliche Erzeugnisse sich bei den Strukturen der Natur inspiriert haben, was vom Faustkeil bis zur künstlichen Intelligenz der Fall ist.
    Danke für diesen äußerst interessanten Beitrag zu meinem Photo !

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Myriade, es freut mich, wenn du den Beitrag brauchbar findest. In früheren Beiträgen habe ich vom einheitlichen Natur-Technik-Raum gesprochen, in dem wir als Menschen grundsätzlich leben. Nur-Natur ist für uns schon aufgrund unserer Physiologie (nackt, schwächlich…) nicht möglich. Immer nutzten die Menschen die Naturschätze, transformierten sie in Kleidung, Nahrung, Feuer, Werkzeug, Waffen…. In vielfältigster Weise ließen sie sich dabei von den beobachteten Gesetzen und Formen der Natur inspirieren – und tun es bis heute. Problematisch wird es, wenn die technische Umgestaltung ein solches Ausmaß annimmt, dass das Gleichgewicht zerstört wird.

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      • Myriade schreibt:

        Der Mensch ist ja schließlich Teil der Natur. In den letzten Jahren entdeckt man ja auch immer mehr, dass so manche Tiere auch zu Werkzeuggebrauch fähig sind, nicht nur die Menschen

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    • gkazakou schreibt:

      Ja, sicher, auch die Tiere schaffen die Natur um, damit sie gut darin leben können – vom Nestbau der Vögel über die Karnickelgänge bis hin zu den kunstvollen Termitenbauten etc pp. Und auch Menschen sind Natur. Dennoch gibt es einen Unterschied, da das Umschaffen durch die Menschen kein eingeborenes im großen ganzen unveränderliches Programm ist, sondern sich ständig verändert und weiterentwickelt – im Guten und Schlimmen. .

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  7. Myriade schreibt:

    Liebe Gerda, du hast wieder auf das Projekt-Logo verlinkt, das funktioniert leider nicht. Am einfachsten geht es, wenn du den link vom Beitrag nimmst https://laparoleaetedonneealhomme.wordpress.com/2020/11/02/impulswerkstatt-einladung-fuer-november/

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  8. Pingback: künftig/bald/nach vorne: Transformation, heute ist Donnerstag | BUCHALOVS BLOG ••••••••

  9. Ule Rolff schreibt:

    Deine Gedanken zur Begriffsklärung finde ich sehr erhellend, liebe Gerda. Immer wieder fühle ich mich durch dein profundes Wissen von Kunst, Kultur und Geschichte bereichert. Danke, dass du dir immer wieder solche Mühe machst, die Dinge zu klären.

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    • gkazakou schreibt:

      Danke dir, Ule. ich machs ja vor allem, um meine eigenen Gedanken zu klären. Wie Kleist sagt; über das Entwickeln der Gedanken beim Reden – so tue ich es ersatzweise, wenn ich niemanden zum Reden hab, durch Schreiben. Was ich nur im Kopf rumwälzte, klärt sich nicht.

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    • gkazakou schreibt:

      Ich mag das Reden auch lieber, Ule. Aber erstens habe ich nicht imemr geeignete Gesprächspartner, und zweitens sind ungeeignete Gesprächspartner sehr hinderlich bei der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) 😉

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      • Ule Rolff schreibt:

        Ja, Gesprächspartner müssen die Ideen wachsen lassen können, und wissen, wann es Zeit für einen Impuls ist. Schwierige Rolle.
        Der alte, ewig junge Kleist … an das Zitat erinnere ich mich noch aus der Schulzeit. Habe ich es damals schon verstanden?

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    • gkazakou schreibt:

      Hast du es damals verstanden? ich ja. Auch das Marionettentheater. Zwei Texte, die mir wichtig waren. In der Schule wurden sie nicht durchgenommen.

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      • Ule Rolff schreibt:

        Das Marionettentheater hat damals dazu geführt, dass ich der Maronetten-AG der Schule beigetreten bin. Wir haben zwei Jahre lang Rollenbücher geschrieben, die passenden Puppen gebaut und Aufführungen vorbereitet. Das mochte ich sehr.

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      • Ule Rolff schreibt:

        Js, ich habe es nicht nur verstanden, sondern auch praktiziert:
        Eine nicht erledigte Hausaufgabe (Aufsatz) habe ich von den leeren Heftseiten „vorgelesen“, da ich unpassenderweise gerade an dem Tag drankam, das „Geschriebene“ vorzutragen.

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    • gkazakou schreibt:

      Ach, schön ist das, Ule! Unsere Schule bot leider keine solche Aktivitäten. Meine Liebe zu den Marionetten entstand durch das Ehepaar Frey, das in den Nachkriegsjahren mit seinem Wägelchen durch die schleswig-holsteinische Pampa zog und uns Kindern das Herz erwärmte. Dundregubbe, Skärfru, (die anderen Namen vergesse ich langsam, ist ja auch schon 70 Jahre her) und natürlich Fietje Appelsnut.

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    • gkazakou schreibt:

      Toll, Ule! Ich hatte eben vergeblich im Internet gesucht. Das Museum in Lübeck habe ich mal besucht und war ganz glücklich. Aber an die alten Puppen und die Magie des Spiels unter den schwierigen Nachkriegsverhältnissen kam es doch nicht heran. Die Feys haben mehr zu meiner Bildung beigetragen als die ganze Schule, denke ich manchmal. ich glaube, ihretwegen wollte ich zum Theater – nicht als Schauspielerin, sondern um der allgemeinen Atmosphäre willen. Kennst du Bergmanns Film „Abend der Gaukler“? Das ist auch so ein prägendes Erlebnis gewesen. Oder Fellinis „La Strada“. Oder „Les enfants du paradis“ mit Jean Louis Barrault? Ich hör ja schon auf!

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  10. Ule Rolff schreibt:

    Ja, La Strada und die wunderbare Giulietta Masina. Und „Die Kinder des Olymp“ habe ich geliebt, für Barrault geschwärmt …Bei dem Bergmann- Film klingt etwas an, aber keine konkrete Erinnerung.

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  11. Ein geradezu symbolträchtiges Bild und eine passende Beschreibung dazu!

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    • gkazakou schreibt:

      Danke, Joachim. So gehts oft: Man hat einen Gedanken im Kopf – und schon findet sich auch das Symbolbild dazu. Du zeigst uns das ja oft auf deinem Blog. diesmal fand ich es auf Myriades Blog. Und so ist es sogar doppelt symbolhaltig: ein Lebendiges wird mit einem technischen Vermittler – Draht, internet – verknotet. 😉

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  12. Genau, so habe ich es auch gesehen. Es ist auch ein Bild das Mut gibt: Was schert mich der Stachedraht, ich gehe meinen Weg und wenn ich das Unmöglich erscheinende tue, durch den Draht hindurchwachsen.

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  13. Pingback: Die Birke und Transformation – naturaufdembalkon

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