„Manche freilich…“ Hugo von Hofmansthal. Lyrik und Bildcollage.

Ich lese neuerdings  –  angeregt durch die Lyrik-Begeisterten und PoetInnen unter euch – wieder vermehrt Gedichte. Gestern öffnete sich meine Anthologie Deutscher Gedichte (Reclam) wie von selbst bei einem Gedicht, das Hugo von Hofmannsthal (er lebte  von 1874 bis 1927 in Wien) als 22Jähriger (1896) verfasste und das 1922 im Insel-Verlag Leipzig veröffentlicht wurde.

Ich kannte das Gedicht, kannte es gut. Aber mir war nicht bewusst, dass es mich offenbar tief geprägt hat. Ich hatte nie bemerkt, dass die Bilder, die sich da entwickeln, in mir fortleben und  mein Denken und Malen in vielfältigster Weise beeinflussen.  Das wiederum erinnerte mich an einen Text von Handke bei Finbarsgift, in dem Handke als junger Mann (25jährig) über die tiefe Prägung seines Charakters durch Literatur schreibt… und mir plötzlich aus dem Nichts Schillers „Ästhetische Erziehung der Menschheit“ einfiel.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber mich faszinieren solche untergründigen Verbindungen, die sich dem Bewusstsein lange entziehen und plötzlich aus dem Dunkeln heraufsteigen und ein neues Verständnis des eigenen Denkens und Fühlens ermöglichen.

Hugo von Hofmannsthal

Manche freilich…

Manche freilich müssen drunten sterben
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
durcheinander spielt sie alle das Dasein,
und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
schlanke Flamme oder schmale Leier.

Die folgende Collage zweier kleiner Gemälde ist keine Illustration des Gedichts, doch spiegelt sie für mich diese Doppelwelt des Oben und Unten – das leichte Reich der „Sibyllen und Königinnen“ und das schwere vergessene Dasein derer, die „unten liegen“. An beidem habe ich Anteil. Denn ein Schatten fällt von jenen Leben in die anderen Leben hinüber, und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden.

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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24 Antworten zu „Manche freilich…“ Hugo von Hofmansthal. Lyrik und Bildcollage.

  1. wildgans schreibt:

    Hierzu erstmal ein großes: OH JAAA!
    Gruß von Sonja

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  2. gkazakou schreibt:

    Du bist eine der Anregerinnen, liebe Sonja, mich wieder mehr mit Lyrik zu befassen: .

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  3. Wenn ich Deine Werke sehe, verstehe ich den Text viel besser!
    Die Grenze überschreiten und vielleicht trotzdem die Erdung zu haben fällt mir auch noch dazu ein!
    Ganz wundervoll Gerda und wieder ein neuer Weg, die Kunst der Lyrik in Verbundenheit mit Deiner Malkunst!👌👍
    Liebe Grüße aus dem jetzt wieder sonnigen Deutschland!🤗😁🙋‍♀️

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  4. Gisela Benseler schreibt:

    Das Gedicht von Hogo von Hoffmannsthal ist mir auch seit meiner Jugend bekannt und hat auch mich ein Leben lang begleitet. Die Leichten dürfen das Leid der Schweren nicht vergessen, sondern sollen es erleichtern helfen. Wenn sie daran ständig arbeiten, bleiben sie auch leicht und auch frei, sind nicht gebunden an der Leid der Schweren. Diese können ja durch solche Hilfe auch leichter werden. Ziehen sie die Leichten aber nach unten, werden sie schwerer.

    Gefällt 2 Personen

  5. Myriade schreibt:

    „Denn ein Schatten fällt von jenen Leben in die anderen Leben hinüber, und die leichten sind an die schweren wie an Luft und Erde gebunden.“
    Sehr wahr und meisterhaft formuliert ! Dazu möchte ich von einem ganz unpoetischen Standpunkt aus hinzufügen, dass diese Erkenntnis in Europa politisch doch deutlich mehr umgesetzt wird als in anderen Teilen der Welt. Nicht perfekt, keineswegs, aber im Vergleich gar nicht so schlecht.

    Hugo von Hofmansthals „Jedermann, das Sterben des reichen Mannes“ wird auch heuer – corona hin oder her – in Salzburg aufgeführt. Ohne das schaurige Rufen des Todes über den Vorplatz des Salzburger Doms gibt es offenbar keinen möglichen Sommer in Österreich 😉

    Gefällt 2 Personen

    • gkazakou schreibt:

      danke, Myriade. Inhaltlich zu deinem: Von Europa ist viel Gutes und viel Schlimmes ausgegangen Es reichte damals nicht und reicht auch heute nicht hinzuschauen, wie Europa sich im Innern gestaltet, sondern auch, wie es in die Welt hineinwirkt, was es nimmt und was es gibt und wie die Balance ist. Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus, Ausbeutung der Menschen, der Bodenschätze, unfairer Handel, auch mit kriegerischen Mitteln oder Sanktionen durchgesetzt, Regimechange aus Eigeninteresse, Fütterung von Bürgerkriegen durch Waffenlieferungen, Ermordung unbequemer oder Bestechung willfähriger lokaler „Eliten“ … Die Liste der Gaben Europas ist lang, auch heute, die dafür sorgen, dass einige (wir) im (relativ) Hellen leben.

      Gefällt 3 Personen

      • Myriade schreibt:

        Keine Frage, Europa hat historisch und aktuell viele dunkle Seiten aber auch in Amerika, China ….. sind die dunklen Seiten heftig, die hellen aber auf prozentuell sehr viel weniger Menschen als in Europa beschränkt.

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    • gkazakou schreibt:

      ich meine, es kommt darauf an, das Gesamtgewebe der Menschheit im Auge (im Herzen) zu haben, und nicht wie Aschenputtels Tauben „die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ auszulesen. Was mich bei Hofmannsthals Gedicht anspricht, ist dies Bewusstsein, dass ich kein isoliertes Wesen bin, sondern in mir das Weltganze wiederhallt. Das fühle ich stets, drum habe ich zB Schwierigkeiten damit, Handlungen gutzuheißen, die mir zwar nützen, aber anderen schaden.

      Gefällt 3 Personen

      • Ule Rolff schreibt:

        Das geht mir ähnlich, Gerda. Dieses Gedicht kannte ich nicht, hätte ich es vor Jahrzehnten gekannt, wäre es sicherlich auch für mich prägend gewesen. So waren es andere Texte, die mich denselben Weg geführt haben.

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  6. Christiane schreibt:

    Das Gedicht steht auf meiner persönlichen Lieblingsliste. Auch mir geht es mit diesen Gedichten so, dass mir immer mal wieder Passagen durch den Kopf schießen und meine Gedanken illustrieren. Danke dir sehr dafür.
    Liebe Grüße
    Christiane 😁🌞☕🍪👍

    Gefällt 2 Personen

  7. Sandra Matteotti schreibt:

    Ich denke immer wieder, wie sehr mich Literatur und auch Lyrik geprägt haben. Und: Sie rufen auch immer wieder etwas in mir wach. Ich finde mich wieder, erkenne etwas, stosse mich an einer Wendung, einem Gedanen – und komme ins Sinnieren. Und immer geht es wieder weiter, manches nehme ich auf, mal bewusster, oft wohl unbewusst. Ich denke, das ist etwas, das auch in Rilkes „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…“
    Danke für deine Anregung, liebe Grüsse zu dir
    Sandra

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  8. Verwandlerin schreibt:

    Oh ja, mich faszinieren solche untergründigen Verbindungen auch.

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  9. Ule Rolff schreibt:

    „untergründigen Verbindungen, die sich dem Bewusstsein lange entziehen und plötzlich aus dem Dunkeln heraufsteigen und ein neues Verständnis des eigenen Denkens und Fühlens ermöglichen.“ Just dies beschäftigt mich zur Zeit auf der Suche nach Gründe für mein heutiges Sosein. Und täglich verblüffen mich aufspringende Erinnerungen, die von den seltsamsten Auslösern geweckt werden.

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    • gkazakou schreibt:

      Also du auch! es scheint in der Zeit zu liegen. Als ob sich etwas klären und zusammenfassen möchte, und wir im Persönlichen einem größeren Trend folgen: was hat uns hierher geführt, welches ist die Summe unserer Erfahrungen, was machen wir draus, um die nächsten Schritte zu ertasten?

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      • Ule Rolff schreibt:

        So etwa, Gerda. Entweder liegt es in der Luft, oder es ist ein Bedürfnis des alternden Menschen, sich um ein abgerundetes Gesamtbild, eine Art Fazit zu bemühen. Bis vor kurzem noch hätte ich voller Überzeugung behauptet, dass mich so ein Rückblick überhaupt nicht interessiert. Jedenfalls nicht so „grundlos“, als art pour l’art.

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  10. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Wie gut kenne ich es, liebe Gerda, dieses plötziche Erkennen, da ist etwas, es steigt hoch und alte Worte, an die ich kaum noch dachte, sind wieder da und bei Dir waren es diese wundervollen Worte von Hugo von Hoffmannsthal.
    Das Helle, das Dunkel, wie gut ist es auf Deinen Gemälden zu erkennen, das Leid im Dunkel, die Freude im Licht und doch gehört es zusammen und aus dem Dunkel wird Licht, während Helles mit Dunklem spricht…

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  11. gkazakou schreibt:

    und aus dem Dunkel wird Licht,
    während Helles mit Dunklem spricht…
    Wunderschön sagst du es, liebe Bruni. Möge es so sein!

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  12. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Stammt wohl aus meiner wortbehaglichen Lyrik, liebe Gerda

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