Die Wohnung, die mein Schwager Dimitris vor einem halben Jahr sterbenskrank verließ, ist nun fast leergeräumt. Die Balkontür, vorher zugemauert mit Büchern jeder Art, steht offen, ein leichter Wind bewegt die Gardine. Zwei Laster mit Bedrucktem sind bereits weg. Am Boden, auf Tischen und Stühlen stapeln sich immer noch Bücher, geringe Restbestände dessen, was der fanatische Wissenssammler angehäuft hatte. Soll ich etwas mitnehmen? Und wenn ja, was? Aus der deutschsprachigen Ecke die Dokumentensammlung von dtv über das 3. Reich? die Protokolle der Nürnberger Prozesse? Schriften von Freud oder CG Jung ? Oder doch lieber Griechisches in verstaubten Bänden, über Pythagoras, Nietzsche, Jesus von Nazareth? Die Entwicklung der Arten von Darwin im Original vielleicht? Oder das dicke bebilderte Buch über die Bienenzucht – wozu brauchte er das wohl, er verließ die Stadt ja eigentlich nie…. Auch über die Schweinezucht informierte er sich, scheints. Und über allerlei mystizistische Welterklärungen, Spezialgebiete der Biochemie, Kunstgeschichte und schwarzen Magie…..
Am besten, ich setze mich still in eine Ecke und zeichne, während seine älteren Geschwister die Bücher in die Hand nehmen und überlegen und reden und Entscheidungen treffen. Er war ja der jüngste. 67 Jahre alt wurde er nur.
Als ich das erste Mal in diesem 2-Zimmer-Appartment war, war ich 28. Meine Schwiegermutter, deren alte Mutter und der damals 19jährige Dimitris wohnten darin, schafften auch für mich und meinen 1-jährigen Sohn Platz. Hinter den Bücherstapeln kamen jetzt Bilder zum Vorschein, die meine Schwiegermutter an die Wände gehängt hatte, billige Kunstdrucke, aber auch solche, die wir ihr im Laufe der Jahre von unseren Reisen mitbrachten. Sogar eines meiner allerersten Tulpenaquarelle fand ich wohlverwahrt hinter seinem Rahmen. Und weil heute Montag und also eigentlich Fototermin ist, hier noch ein paar Kostproben von dem, was ich heute vormittag in die Hand nahm und fotografierte.
Viel mehr, als Bücher würde ich die Bilder retten. Das kleine Mädchen mit der Schleife hat bestimmt viel zu erzählen!
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Danke, Piri. aber die Geschichten, die es zu erzählen hätte, kann und mag ich jetzt nicht hören.
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Die Zeichnung und ihre Bearbeitungen wirken so nebeneinandergestellt wie ein Spiegel von Zeit und Stimmungen eines Lebens, das von einem kleinem Raum ausgehend eine grosse geistige Ausdehnung anstrebte.
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Ganz herzlichen Dank, das klingt sehr schön und ist hilfreich.
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Was für eine traurige Situation, liebe Gerda. Dass du dich auch hier zeichnend – nein, nicht zurückziehst – mit dem Leben auseinandersetzen kannst, ist hoffentlich auch tröstlich für dich.
Die entstandene Zeichnung gibt mir viel von dem Gefühl: da ist jemand fort, der im Leben der Gebliebenen weiterhin seinen Platz hat. Was er zurücklässt, gibt Fragen und Erinnerungen, auch freudige. Diese Stimmung finde ich am tiefsten in der grünlich getönten Version wieder.
Ich wünsche dir Gutes.
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danke, Ule, ich knabbere noch ziemlich am heute Wahrgenommenen und Erinnerten. Ja, das Zeichnen hilft mir immer, mich zu distanzieren und doch tief beteiligt zu sein. Die genaue Wahrnehmung dringt ein, der Stift fährt nach, macht lebendig, Erinnerungen können zugelassen werden, neue Züge werden entdeckt, Gedanken strömen auf mich ein, manchmal verstörende. Aber der Strom bleibt durch das Zeichnen kontrolliert und überschwemmt mich nicht.
Zu deinem morgen.
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Ich wünsch dir von Herzen, dass du Ruhe finden kannst und neue Kraft, liebe Gerda.
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Danke, Ule, Kraft habe ich schon. Dies war nur eine Episode des Tages. Das Leben ist ja so unendlich vielgestaltig und bot sich mir auch noch in ganz anderen Facetten heute dar. Anschließend trat ich mein „Patenkind“, eine 20jährige albanische Roma, deren Familie ich seit 16 Jahren ein wenig unterstütze. Und es war eine Freude, diese junge Frau zu sehen. Ihre jugendliche Kraft übertrug sich dann auch ein wenig auf mich. Also, alles gut! Gerda
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Dann schlaf einfach gut und freu sich auf viele neue Facetten, die der neue Tag dir schenkt.
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Danke Ule, mach ich. Schlaf du auch gut. Gerda
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Liebe Gerda, ich teile voll und ganz Ules Gedanken. Ich finde es beeindruckend, dass Du in dieser schwierigen Situation zeichnen kannst (und dann solch ein Motiv: ein leerer einzelner Stuhl), aber es ist wahrscheinlich genau das Richtige für Dich, das zu bewältigen. Du bist offenbar so lange dort vertraut, findest sogar eines Deiner ältesten Bilder wieder… das macht etwas mit einem. Alles Liebe zu Dir!
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Herzlichen Dank, Almuth, für deine liebevollen Worte. Ja, es macht etwas mit einem, wenn man über eine 50jährige Wegstrecke zurückschaut. Aber auch, wenn man sich fragt, wozu all dies in Büüchern abgelegte Wissen, Pseudowissen, Möchtegernwissen am Ende gut ist?
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Es ist hilfreich, durch Zeichnen seine Erinnerungen an einen lieben Menschen zu vertiefen. Ich versuche dann immer, meine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen aufzuschreiben und trage alles in mein Tagebuch – das schon seit vielen Jahren – ein um es später, mit einem gewissen Abstand, nachzulesen. Es hilft mir sehr.
Herzliche Grüße
Heidi
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danke, Heidi. du hast so recht. Tagebuch habe ich auch viele viele Jahre täglich geschrieben, und im Grunde ist das Blog nun mein Tagebuch. Zeichnen hat noch eine andere Qualität für mich, es distanziert mich auf bessere Weise, wie ich in einem anderen Kommentar schon schrieb. iebe Grüße, Gerda
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Was für eine schöne Hommage. Es scheint, das dein Schwager nur kurz den Raum verlassen hat und gleich wieder hereinkommt. Ja, er ist im Raum nebenan. Irgendwann folgen wir ihm. Danke für den intimen Einblick. Es grüßt bewegt, Marie
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danke Marie. Im Ernst, ich bin irgendwie ganz froh, dass er diesem Raum entkommen ist. Er war bis oben mit Büchern zugemauert, kein Licht drang mehr von draußen rein. Das ist keine Übertreibung. Sogar das Wasserbecken in der Küche war voll gestapelt, nur ein Trampelpfad führte zum Bett… Nun ist sein Geist frei.
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So kenne ich es von einem Freund. Der will es aber so.
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Die Reichtümer unseres Lebens, die nur für uns welche sind, die ihre Bedeutung hatten, in denen wir zu Hause waren……was sind sie, wenn wir nicht mehr leben für die anderen? Last, Freude, Wehmut, Unverständnis, Rätsel.
Eine Welt von 2 Zimmern für 5 Personen und die Dinge, die sie umgeben, ich stelle es mir als ein damals nicht immer einfaches Zusammenleben vor.
Zeichnend hältst Du etwas fest, das sich zu verflüchtigen droht, bewahrst es zur Erinnerung; Lu würde vom mono no aware schreiben. Dieses Abschiednehmen als nicht zu ändernder Tatbestand des Altwerdens….eine verdammt schwere Übung.
Dir einen späten Abendgruß mit Dank für Deine Mail, die Link-Lektüre muß ich mir langsam erarbeiten, Karin
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Danke, Karin. das Thema Politik und Kunst beschäftigt mich selbstverständlich weiter. es ist ein Dauerbrenner.
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Ich hatte einen Onkel, der sich auch von keinem Buch, keiner Zeitung trennen könnte. Selbst im Keller gab es nur einen schmalen Schlauch, durch den man sich zwängen musste. Das hat mir beim Loslassen der Dinge sehr geholfen. Schlaf schön liebe Gerda. Herzlichst, Marie
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Danke, Marie. Du auch!
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Bücher, die Wände bauen, Fenster versperren, als schaute dein Schwager nur noch nach Innen, dahinter die Bilder und dann wieder Bücher … mein allererster Arbeitskollege, ein damals schon in die Jahre gekommener Mann, brachte jeden Tag in seiner Aktentasche Bücher mit, die wir dann sichteten und auswählten, seine Frau hatte darauf bestanden, dass es Zeit wird abzugeben, aber dort war wohl selbst die Badewanne von Büchern belegt. Kann man sie alle lesen oder geht es auch um eine Art Sammelwut von Wissen, was man sich vielleicht auch noch gern aneignen möchte, aber dann doch nicht schafft?
Nichts können wir mitnehmen und was passiert dann wirklich mit all den eigenen Schätzen, wird die eine und andere einen solchen erkennen und weiter heilig halten und was wird zu Müll, traurige Fragen, wie ich finde. Ich mag deine Zeichnung sehr, der leere Stuhl ist dabei für mich symbolisch.
Liebe Grüße
Ulli
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Herzlichen Dank, Ulli. Ja, der leere Stuhl, der übrigens verzeichnet ist, aber das gefällt mir sogar. Ich vermute, dass solche Sammelwut gar nicht so selten ist, weiß aber nicht, ob sie seelisch immer gleich begründet ist.
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Vielleicht erinnerst du dich noch hieran: https://cafeweltenall.wordpress.com/2018/10/12/miniatur-008-2108/
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danke fürs Erinnern.
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gerne …
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uih, brisant, ja, so könnte es sein, wenn einer im papierhaus lebte. es gibt wohl ein buch mit diesem titel, papierhaus, und da wird glaube ich einer von den bücherwänden begraben, erschlagen…ach, ach.
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Danke, Sonja.
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Beeindruckend das alles. Da steckt viel drin.
Das 4te Interieur sagt mir am besten zu.
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danke, Gerhard.
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Mir ging das heute noch einige Male durch den Kopf.
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Lebte er alleine?
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Ja.
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Das dachte ich mir. Er hatte nur noch seine Bücher, was auf Dauer zu wenig ist.
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das stimmst so nicht, Gerhard. er war bis zuletzt berufstätig, und war anscheinend bei seinen Kolllegen sehr beliebt. Sie waren bei seiner Beerdigung vollzählig da. Die Anhäufung von Wissen war freilich ein Charakteristikum seines Lebens, er war ungeheuer belesen und diskussionsfreudig und zugleich ohne Fokus, da ihn anscheinend die Gesamtheit des Wissens in den Bann zog. Ein Zustand, den man früher lobte (Universalgelehrter), der den Menschen heute aber total überfordert. In der Tendenz bin ich genauso. Und du vielleicht auch. Man muss lernen, sich zu bescheiden und zu vertiefen, sonst ersäuft man im Ozean der Wissensproduktion..
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Sicher habe ich auch diese Tendenz, si elockt mit allen Fasern! Doch wie Du sagst: Es ist nicht mal im Ansatz schaffbar.
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Liebe Gerda,
ein sehr trauriger Anlass!
Beim bisher teilweise Ausräumen des Hauses meines Vaters hatte ich immer ein bedrückendes Gefühl, ein Gefühl von schlechtem Gewissen, dass ich mich mit etwas beschäftige, was mich nichts angeht.
Übrigens, ich habe meiner Mutter vor Jahren einmal einen ähnlichen Tulpenstrauß gemalt. Er hängt noch im Haus in der Diele.
Liebe Grüße von Susanne
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Dein Vater lebt noch, Susanne, da ist es was anderes, da fühlt man dann, dass man in etwas eindringt, was man eigentlich nicht sollte. Solange mein Schwager lebte, durfte seine Schwester nichts anrühren. Der Tulpenstrauß, den ich meiner Schwiegermuter schenkte, was der am konservativsten gemalte, da ich dachte, dass ihr das am meisten zusagte. Ich weiß aber gar ncht, ob das stimmt. Liebe Grüße!
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Meine Mama hatte sich tatsächlich einen Tulpenstrauß gewünscht, ich habe drei Stück gezeichnet, einen mit Aquarell, einen mit Pastell und einen mit Buntstift, Mama sollte sich einen aussuchen aber sie hat sie alle drei gerahmt und im Haus verteilt.
Was ist konservativ? Wie hättest du ihn sonst gemalt? Wie würdest du ihn heute malen oder zeichnen?
Das sind alles interessante Fragen.
Liebe Grüße sendet dir Susanne
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beeindruckend, traurig, so viel erzählend, dieser beitrag, sehr berührend. vielschichtig.
ein weg der verarbeitung, ein ort der erinnerung (dein bild! vom stuhl mag ich sehr) und zum nachspüren.
niemand geht je so ganz… besonders an bestimmten orten sind bestimmte menschen gegenwärtig.
alles liebe für dich, liebe gerda,
diana
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danke, Diana. An diesem Ort traf ich auf verschiedene Lebensschichten, darunter auch meine eigenen, die sich mit denen der Bewohner vermischten. Ich glaube, das ist es, was mich am meisten beschäftigt: wie war ich damals, als ich mit den inzwischen Verstorbenen erstmals zusammentraf, was bedeutete es für mich. Eine Schicht in der Wohnung lag unter all dem, was sich in 50 Jahren so anhäufte, die war wie meine eigene Haut. alles Liebe, Gerda
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So ist es oft – die eigene Geschichte in all dem. Das kommt vehement ins Bewusstsein.
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Wir haben vor kurzem das Haus meiner Eltern endlich fertig geräumt, inklusive tausender Bücher. Aber in diesem Fall gehörten die Bücher zu den einfacheren Dingen …..
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schwierig ist es allemal, bei den eigenen Eltern vielleicht sogar am schwierigsten. danke, Myriade.
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Dimitris muss ein faszinierender Mann gewesen sein. Ein neugieriger Intellektueller mit einem weiten Horizont. Ich hätte ihn gern kennengelernt. Abschied nehmen, auch von materiellen Dingen, die ja immer mit dem Immateriellen verknüpft sind, ist ein langer, schmerzhafter Prozess.
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danke, Beke. Deine freundliche Anteilnahme tut gut. Gerda
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