Griechische Dichtung am Sonntag: Dinos Christianopoulos über Ödipus


1967-edipo-re-01-gSophokles, Ödipus auf Kolonos, Foto von einer Aufführung von 1967, aus einem griechischen Blog, ohne Quellenangabe.

Der Saloniker Dichter Dinos Christianopoulos, Jahrgang 1931 und noch am Leben, hat es nicht einmal zu einem deutschsprachigen Eintrag bei Wikipedia gebracht. Hierzulande aber ist er durchaus bekannt – und zu recht. Dennoch habe ich ihn heute unter all den hochkarätigen griechischen Dichtern nur deshalb ausgesucht, weil er ein bemerkenswertes Gedicht über Ödipus geschrieben hat.

Wie ihr, die meinem Blog folgt, wisst, befindet sich mein Geschichtengenerator-Held John der Maler in diesem Moment dort, wo vor Urzeiten Ödipus stand: in Theben, vor dem Felsen der Sphinx. IMG_6631aaUnd so schien es mir angebracht, mich einmal zu fragen, mit welchem Recht wir uns eigentlich des hochpersönlichen Dramas dieses Mannes Ödipus bemächtigt haben, dass wir aus ihm einen Archetyp und einen Komplex genannt haben.

Der Mythos, den Sophokles zum Drama formte, sagt uns, dass Ödipus, aus Theben vertrieben und blind, mit der Hilfe seiner Tochter Antigone überlebte und schließlich in Kolonos bei Athen, am Heiligtum der rächenden Erinnyen starb und bestattet wurde. Es ist das zentrale Stück der Trilogie über Ödipus – das erste schildert den Aufstieg von Ödipus zum König und das Drama der Entdeckung seiner blutschänderischen Ehe, und das letzte das Drama seiner Tochter Antigone, die einem heiligen Versprechen gehorchend ihren Bruder, den der Bruder erschlug, bestatten will -. Es wurde von vielen, u.a. von Peter Handke, ins Deutsche übertragen, ist aber trotzdem den meisten unbekannt. Vielleicht mache ich darüber mal einen Eintrag, denn es ist eine grandiose Dichtung. IMG_5622c

Hier nun  das zeitgenössische Gedicht von Christianopoulos, das er erstmals 1950 veröffentlichte. Ihr merkt schon, trotz meiner Übersetzung der gebundenen in einfache Prosa, dass der damals noch junge Mann ganz im Bann des alexandrinischen Dichters Kavafis stand.

Antigone verteidigt Ödipus

Männer, Athener, was schaut ihr uns so neugierig an? Ja, dies ist mein Vater, der Ödipus, der einst ein hochberühmter König war und nun auf eurem Markt herumgeht, geschlagen vom Schicksal, zerlumpt und blind, und auf seinem zerbrochenen Instrument spielt.

Männer, Athener, jeder Obolus, den ihr gebt, fügt eurem Herzen einen Riss hinzu. Die Geheimnisse unseres Hauses sind schwer geworden von euren fantastischen Zusätzen. Lasst uns in Frieden! Bis wann wollt ihr uns herumzerren wie der Zigeuner den Tanzbären – und die Tragiker, sie bringen uns auf die Bühne, belagern uns und wollen die Einzelheiten erfahren, wollen wissen, wie das alles geschah und warum es ihm nicht gelang, den Schlag zu vermeiden.

Männer Athener, reicht es euch nicht, dass mein Vater ein Dichter war, der erste, der den Symbolismus einführte, der mit dem Epigramm „Antwort auf die Sphinx“ das Leben vieler rettete – abgesehen von dem ästhetischen Vergnügen -. In sein ganz persönliches Leben dringt ihr ein und sucht nach ödipalen Komplexen, unerlaubten Liebschaften und Lüsten, die die laufende Ethik euch verbietet.

Euch wurde die „Antwort an die Sphinx“ gegeben, lasst das übrige im Halbdunkel! Immerhin tat er unwissend das, was ihr in vollem Wissen tut.

Aus der Gedichtssammlung: In Zeiten der mageren Kühe (1950)

[Quelle: Ντίνος Χριστιανόπουλος, Ποιήματα, Εκδόσεις Διαγωνίου, Θεσσαλονίκη 1985, σ. 26-27]

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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9 Antworten zu Griechische Dichtung am Sonntag: Dinos Christianopoulos über Ödipus

  1. haluise schreibt:

    Hat dies auf haluise rebloggt.

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  2. Martina Ramsauer schreibt:

    An die Familie von Ödipus haben die Neugierigen, wie üblich, nicht geachtet! Ich danke dir sehr für diese Übersetzung, Gerda, denn ohne dich wüsste ich überhaupt nicht wer Dinos Christianopoulos ist/war.

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  3. Pingback: Griechisches Alphabet des freien Denkens Σ wie ΣΥΝΕΙΔΗΣΗ/Gewissen, Bewusstsein | GERDA KAZAKOU

  4. Sabine schreibt:

    Hat dies auf Kreatives von Sabine Müller rebloggt und kommentierte:
    Hallo Gerda, interessant dein Beitrag. In Altenburg (am TPT) habe ich die Oper Oedipe gesehen- Komponist George Enescu. Mich hat nun interessiert, was du so über Ödipus in deinem Blog geschrieben hast. Werde nun eine Grafik zu dem Thema machen. LG Sabine

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  5. Sabine schreibt:

    Trailer der Oper am TPT Altenburg/Gera

    Gefällt 1 Person

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