Tempel – Schatzhaus – Grab? Es ist schwer zu entscheiden.
Schatzhäuser, wie sie von den griechischen Städten in Delphi, Olympia und an anderen Kultstätten errichtet wurden, hatten die Form einfacher Tempel. Das Schatzhaus des Atreus ist in Wirklichkeit ein mykenisches Grab, und das von Petra in Jordanien ein Mausoleum. Die heutigen Geldtempel nennt man Börsen – was von griechisch: abgezogene Haut, Fell kommt. Woher denn auch der Ausdruck: jemandem das Fell/die Haut über die Ohren ziehen.*
Als ich das Bild im Jahre 2008 malte, dachte ich nicht an Schatzhäuser, Gräber – oder gar die Aktienbörse. Ich dachte an Tempel und daran, dass wir Heutigen keine rechte Vorstellung mehr davon haben, was ein Tempel ist und wozu er dient.
Der Grundriss des Tempels, wie er vielleicht einmal geplant war, ist an eine braune Wand gezeichnet. Aber sonst will sich nichts zusammenfügen. Der zentrale Teil ähnelt immerhin noch einem Tempel, auch wenn die Säule mit dem ionischen Kapitell durch ein anderes Säulenstück nach oben verlängert ist, damit sie das marmorne Giebeldreieck erreicht.
Aber was ist über die anderen Teile zu sagen? Und gar über den signalroten Stab, der ein unförmiges Marmorstück stützen soll? Und über die Stufen, die von links ins Gebäude führen, heimlich, wie geschaffen für Diebe? Oder über die blaue Eisenschiene, die aussieht, als wäre sie liegengeblieben nach einem vergeblichen Renovierungsversuch?
Im Geheimen dachte ich schon damals an das Finanzsystem und dass es zusammenbrechen wird. Diese Vorahnung wurde zur Gewissheit, als Lehman Brothers pleite gingen und die sogenannten Märkte schwankten. Seither hat man tüchtig geflickt, gestützt und Rettungsschirme aufgespannt. Aber so richtig harmonisch wirkt das Gebilde nicht mehr. Man kann kein Vertrauen haben. Es wird zusammenstürzen. Schließlich sind viel großartigere Tempel eingestürzt.
Die Athener Börse ist, wie viele andere Börsen der Welt, mit griechischen Säulen geziert, als wäre sie ein Tempel. Viele glaubten an sie und lasen täglich die Aktienberichte wie einen liturgischen Text. Seither ist die Schar der Gläubigen geschrumpft, während die der Schuldner und Gläubiger zunahm. Wenn heute der deutsche Aktienindex bei 10.809 liegt, so liegt er in Athen bei 701. Na, meinetwegen.
* www.redensarten-index.de/ bringt folgende Beispiele:
„Nun werden Staaten ja nicht von Überziehungskrediten und Kreditkarten zum gedankenlosen Ausgeben verführt, sind nicht dumme, arme Leute, denen ein reicher Abzocker die Haut über die Ohren zieht, sondern sind voller bester Wirtschaftsfachleute und Experten“; „Lasst Euch nicht das Fell über die Ohren ziehen! Wehrt Euch!“; „Demokratie ist die Kunst, dem Volk im Namen des Volkes feierlich das Fell über die Ohren zu ziehen„; „Wer auf ‚Twitter‘ setzte oder gar auf die Aktien von 3D-Systems, dem wurde das berühmte Fell über die Ohren gezogen„….
Ich mag besonders den Grundriss auf der braunen Wand. Diese Art der Darstellung ist vertraut, während auf deinem Bild alle Wände zu kippen scheinen und es keine Ort mehr gibt, auf dem der Betrachter mit festen Füßen stehen kann. So fühlt sich die Welt gerade an.
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So ist es. Der Betrachter kann keinen Punkt außerhalb des Geschehens einnehmen, er steckt mitten drin. Die Welt ist keine Guckkastenbühne.
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„Die Welt ist keine Guckkastenbühne.“ Ein Satz für die Ewigkeit!!! (und für den Zettelkasten)
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ich freu mich, Ulli, dass du auf dieser Seite gelandet bist. .Im Oktober kannten wir uns wohl noch nicht
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ich habe auch gerätselt, aber wahrscheinlich noch nicht…
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