Spiegel, noch einmal.
Ihr kennt den griechischen Mythos von Narkissos? Narziss der Schöne schlug die Liebe der anderen aus, denn er liebte nur sich selbst. Unstillbar war seine Selbstliebe. Sie endete tödlich. Narziss ertrank in seinem eigenen Spiegelbild. Das war die Strafe der Nemesis dafür, dass er sich den anderen verweigerte.
Liebte er sich? Oder liebte er nur das Bild, das er im Spiegel des Sees sah? Nachdem er sein Spiegelbild gesehen hatte, konnte er sich nicht mehr von ihm trennen. Eine unstillbare Sehnsucht hielt ihn fest. Er starrte und starrte hinab. Er sah das Wunder seiner eigenen Vollkommenheit. Er wollte es begreifen, anfassen, umarmen. Da verlor er das Gleichgewicht und stürzte in sein eigenes Bild. Die klare Oberfläche des Sees zersprang, und Narziss versank in sich selbst.
Er versank in sich selbst? Oder nur in dem Bild, das er dort, im Spiegel des Sees, gesehen hatte? Versank in einer Schimäre, in einer Illusion von Großartigkeit und Glanz?
Liebe dich selbst! Wer hat diese Aufforderung nicht schon gehört, wenn er sich mit Selbstzweifeln herumplagte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! fordert die Bibel. Manche sagen: Zuerst musst du dich selbst lieben – erst dann hast du die Kraft, auch deinen Nächsten zu lieben. Doch leider vergessen viele in ihrem Eifer, sich selbst zu lieben, dass es ja eigentlich um die Liebe zum Nächsten geht.
In meinem Bild ist Narziss ein traurig anzusehender Bursche, der eine große Sehnsucht in sich trägt. Er sehnt sich nach seinem Höheren Selbst, diesem göttlichen Wesen, das er irgendwie ja auch ist.
Die Welt ist ihm zu dürftig. Die Menschen sind ihm zu klein. Es ist ihm zu anstrengend zu bauen, zu kämpfen, zu leben, zu lieben.
Er zieht es vor, in seine eigenen Tiefen zu steigen, die ihm golden aus der Dunkelheit des Sees, der Seele entgegenleuchten.
ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ. Erkenne dich selbst! forderte eine Inschrift über der Orakelstätte von Delphi. Und wahrhaftig, sich selbst soll man erforschen.
Mir scheint, am meisten erfährt man über sich selbst, wenn man sich den Mitmenschen zuwendet. Suchst du das Selbst in dir selbst – dann läufst du Gefahr, in deinem eigenen Spiegelbild zu ertrinken.

Danke, das gefällt mir sehr gut. Ich interessiere mich für Mythologie (u.a. Bezüge auf Mythos in Gegenwartsliteratur). Es freut mich sehr, diese Gedanken hier mit Bildender Kunst in Verbindung zu sehen.
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„bildende Kunst“ – gefällt mir. Eine Kunst, die bildet.
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Die Welt ist ihm zu dürftig. Die Menschen sind ihm zu klein. Es ist ihm zu anstrengend zu bauen, zu kämpfen, zu leben, zu lieben.
– Das war eine ziemlich gute Beschreibung von mir selbst.
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ein Stück Selbsterkenntnis gewonnen? Würde mich freuen.
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Ich glaube wirklich, dass mir das Leben teilweise zu anstrengend ist und mich deswegen zurückziehe. Vielleicht bin ich einfach zu faul zu leben.
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ganz so schlimm scheint es ja nicht zu sein, Nomadenseele! Immerhin machst du dir die Mühe, mit mir zu reden. 🙂
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ja, das ist so eine Sache mit dem selbst lieben, dem sich nicht lieben, den anderen lieben, wie sich selbst. Ein dicker Brocken Arbeit, dann wieder nur ein Bröckchen … es hört eben nie auf, daran zu arbeiten – danke für die Anregung, kann ich gerade jetzt gut gebrauchen.
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Danke auch! Freut mich!
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Im Spiegel des Narziss wird mir bewusst, dass auch mir sein Spiegel vorgehalten wird.
Das kann wohl nicht oft genug geschehen.
Nun versuche ich „Mir selbst den Spiegel vorzuhalten“ zu legen, Gerda mou. Bin gespannt!
Ingrid
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Na dann! Viel Spaß und Einsicht dabei.
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Das sind sehr interessante Gedanken, liebe Gerda!
Hier in der Klinik wurde mir gerade heute wieder anderes gesagt: ja, es ist schon gut, wenn Sie sich um Ihre Mitmenschen sorgen, sich über andere Gedanken machen. Aber jetzt bitte denken Sie die nächsten Wochen erst einmal vorrangig an sich selbst! Und denken Sie über sich, ihre Gefühle, Wünsche usw. nach.
Ich fürchte, bei vielen Menschen gibt es da ein Ungleichgewicht – die einen haben es gelernt, egoistisch zu sein (eigentlich geht das ja in einem Wirtschaftssystem wie dem unseren gar nicht anders, uns wurde nach der Wende in der Schule gesagt: nun packt mal Eure Ellbogen aus!).
Die anderen aber hingegen verurteilen sich für jeden Gedanken an sich selbst und erreichen damit das Gegenteil: denn wem ist damit geholfen, wenn man seine eigenen Bedürfnisse missachtet und sich selbst zugrunde richtet?
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Liebe Agnes, ich habe schon in einem anderen Kommentar gelesen, dass du in einer Klinik bist und versuchst, doch vor dem allzu starken Mitfühlen mit dem Unglück anderer Menschen zu schützen. Du hast vollkommen recht, dass du zuerst Fürsorge selbst sorgen musst. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Man kann nur für andere nützlich sein, wenn man selbst einigermaßen stabil und mit sich selbst in Übereinstimmung ist. wenn man sich selbst verliert – an andere oder durch Mitleid mit dem Unglück der Welt – tut man nichts. Also schon dich, tue Dinge, die gut für dich sind, freu dich an allem, was du tust, auch an den Kleinigkeiten. Freude bringt Kräfte zurück! LG und alles Liebe! Gerda
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Pingback: Mirror of the Mind, 2. Nachtrag: Die Liebe des Polyphem | GERDA KAZAKOU
Hat dies auf GERDA KAZAKOU rebloggt und kommentierte:
ich weiß, ich weiß, rebloggen eigener Beiträge ist nicht fein. Aber was tun bei einem solchen Thema? da habe ich nun schon so viel drüber geschrieben. ZB dies, über Narziss, der zu lange und zu selbstverliebt in den Spiegel des Sees schaute…..
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Ist es nicht so, daß wir gar nicht in der Lage sind, andere zu lieben, wenn wir uns selbst nicht mögen? Mag ich mich, nehme ich mich an mit allen Macken und Mängeln, kann ich meine Arme ausbreiten und Liebe/Achtung/Toleranz weitergeben. Lehne ich mich selbst aber ab, mag ich die anderen auch nicht, weil mir an ihnen so viel mißfällt wie an mir selbst.
Um mich selbst anzunehmen ist sicherlich kein Spiegel erforderlich und um im eigenen Ich ertrinken zu können, ist vermutlich jede Menge Spiegelübung *g* erforderlich.
Ist nicht ein Mensch, dem es unmöglich ist, andere zu mögen, zutiefst unglücklich? Ist er nicht einsam, fühlt es ingeheim, möchte es aber nicht wahrhaben?
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Liebe Bruni, ich denke mal, das sind rhetorische Fragen 😉
Und da es spät ist, sage ich jetzt mal zu allem „JA“. Gute Nacht, du Liebe.
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