Schluss mit dem Leichtsinn!

IMG_2797 „Flügel“, tönt es aus dem Norden zu uns nach Hellas herüber. „Flügel sind für Vögel. Der Mensch ist kein Vogel, der Mensch kann nicht fliegen!“

Bertold Brecht hat das Argument ein wenig ausgeführt in seinem Gedicht

Der Schneider von Ulm
(Ulm 1592)

„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach’!“
Und er stieg mit so ‘nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.
Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.

„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“
„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Der Schneider zu Ulm wurde, so scheint mir, wieder inkarniert. Und da er das Trauma seines Absturzes auch im Jenseitigen nicht loswerden konnte, ist er in diesem Leben zu einem anderen schwäbischen Schneider geworden. Wo immer er Flügel sieht, holt er seine große Schere heraus und schneidet sie ab. Die Luftikusse des Südens machen ihm besonders große Sorgen. Sie wollen das Fliegen nicht lassen. „Runter mit den Flügeln“ schreit der besorgte schwäbische Hausvater. „Nur so seid ihr zu retten. Oder wollt ihr enden wie der Schneider zu Ulm?“

no more flying around and nonsense

Vorwärts marsch! (c) Gerda Kazakou

Und da hängen sie nun, die abgeschnittenen Flügel! Wohlgeordnete Museumsstücke aus einer Epoche, als Fantasie und Leichtigkeit noch nicht gegen Staatsraison ausgetauscht wurden.

IMG_2802 Die kleinen und großen Vögel stehen flügellos um den Meister-Marschierer herum. Sie versuchen zu verstehen, was das ist: Marschieren!

IMG_2800  IMG_2798  Ein Vogel hat schon aufgegeben, er zeigt, die Füße nach oben, sein neu angepasstes Schuhwerk.

IMG_2801

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Dichtung, die griechische Krise, Leben, Tiere abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

10 Antworten zu Schluss mit dem Leichtsinn!

  1. hellajm schreibt:

    Der (reinkarnierte) Schneider von Ulm – ein sehr hintersinniger Kommentar zur traurigen Aktualität!
    Die Bilder rührend traurig.

    Gefällt 1 Person

    • gkazakou schreibt:

      Wer behauptet, mit dem reinkarnierten Schneider von Ulm sei der deutsche Finanzminister gemeint, hat übersehen, dass letzterer nicht in Ulm, sondern in Freiburg geboren wurde. Ich habs bei Tante Wiki nachgelesen. Da steht auch, dass Herr Schäuble promoviert wurde mit dem Thema „Die berufsrechtliche Stellung der Wirtschaftsprüfer in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften“.

      Gefällt 1 Person

  2. Pingback: Beflügeltes Dasein | GERDA KAZAKOU

  3. Susanne Haun schreibt:

    Liebe Gerda, diesen Beitrag von dir habe ich noch nie gelesen und er ist es wert! Jetzt habe ich die Flügel an der Leine im Kopf! So schnell bekomme ich die nicht mehr raus…..
    Deine Legearbeit Vorwärts marsch! existiert sicher nicht mehr? Nur das Foto?
    Wie vergänglich und eindringlich deine Arbeit ist.

    Gefällt 1 Person

    • gkazakou schreibt:

      bin grad hierher gegangen, weil Jürgen von Linsenfutter eine Möwe zeigt, die fast so schreit wie mein Obermarschierer. Und da sah ich auch deinen Kommentar, für den ich dir sehr danke. Ja, es gibt nur die Fotos. den Ausschnitt mit dem schreienden Vogelkopf hast du vielleicht in unserem Wohnzimmer in Athen gesehen….

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      • Susanne Haun schreibt:

        Es ist schon 2 Jahre her, dass ich den Kommentar schrieb und ich freue mich, dass ich eine späte Antwort bekomme. Danke, liebe Gerda, bestimmt habe ich den schreienden Vogelkopf in eurem Wohnzimmer wahrgenommen. Es war sehr schön bei euch.

        Gefällt 1 Person

  4. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Nun lese auch ich Deinen überaus feinen Artikel über das viel zu leichtsinnige Fliegen, wenn es so wenig ausgereift ist, wie beim Schneider von Ulm. Ich kannte Brechts Worte nicht und habe sie nun genüsslich in mich reingezogen und dabei sehr nachdenklich vor mich hin gedacht, liebe Gerda…

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    • gkazakou schreibt:

      danke, liebe Bruni. Ich freu mich, dass du hier warst. Brecht ist sicher ironisch zu verstehen – der Kirchenmann glaubt nicht an den Fortschritt… aber wir wissen ja inzwischen, dass der Mensch durchaus fliegen kann, wenn er sich die entsprechenden Hilfsgeräte baut. Dennoch mag ich den Spruch: der Mensch ist kein Vogel, denn so ist es nun einmal. 🙂 Und der wieder inkarnierte „Schneider von Ulm“ ist natürlich der deutsche Finanzminister Schäuble, der uns hier im Süden die Leviten gelesen und das Fliegen verleidet hat. 😉 Nun ist er ja auch schon wieder Vergangenheit, und es gibt neue Gründe für unsere Flügellahmheit. 😦

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      • www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

        Seine Ironie mag ich sehr., hab sie immer gemocht, aber den Schneider von Ulm hatte ich nie gehört oder gelesen. Du dachtest also tatsächlich an den Schäuble, da war ich nicht sicher *g*. Deine Worte passten so schön zu Finbars Fliegen 🙂

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    • gkazakou schreibt:

      danke, ja, es passte zu Finbars Fliegen, drum verlinkte ich es. Aber geschrieben habe ich es 1915, in der griechischen Krise, als Schäuble uns den Finanzhahn bzw die Luft zum Atmen abdrehte, damit wir Luftikusse endlich das Sparen und im Gleichschritt Marschieren lernen. Schäuble ist der „Schneider“, weil er abschneidet. Und seine Liebe zur „schwarzen Null“ steht einem schwäbischen Hausvater gut zu Gesicht.

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