Tagebuch der Lustbarkeiten: Lesen, vergleichen (Anmerkungen zum Glasperlenspiel)

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Als Willi das „Glasscherbenspiel“ erfand (hier, dazu die obigen Bilder), kannte ich Hermann Hesses späten Roman nur dem Titel nach. Er ruhte ungelesen auf einem Regal im Keller. Nun zog ich ihn heraus, um ihn als Einschlafhilfe während der Mittagspause zu lesen.

Dumm ist nur, dass er mir gar nicht beim Einschlafen hilft. Denn trotz seiner altmodisch-umständlichen Sprache (oder vielleicht gerade deshalb?) bin ich in seinen Sog geraten. Inzwischen habe ich mich schon fast durch die Hälfte des 613-seitigen Wälzers (suhrkamp taschenbuch) gefressen, quasi mit der Nase am Boden schnüffelnd, wohin mich die Erzählung mitnehmen will. Welche Hinweise auf die Gegenwart des Autors (das Buch wurde 1943 veröffentlicht) und vor allem: auf unsere aktuelle Gegenwart finden sich? Wo versteckt sich der Autor mit ironischem Lächeln hinter dem braven Erzähler – der übrigens kein Einzelner, sondern ein „wir“ und „uns“ ist, denn das Individuum mit seinem subjektiven Streben und Schnickschnack hat in der geistigen Welt von Kastalien keinen Platz. Sein Wert wird ausschließlich durch seinen Dienst in der Hierarchie bestimmt.

Und so verfolge ich den für mich ganz fremden Werdegang einer von Anfang an schon der „Privatheit“ entkleideten Persönlichkeit (Joseph Knecht) mit Spannung. Die Handlung spielt in der fernen Zukunft, aber diese Zukunft ist wie in eine ideale Vergangenheit eingekleidet: der Bildungskanon beginnt in der Vorzeit und bricht im 19. Jahrhundert ab, die Musikgeschichte endet mit Schubert – gefolgt von einer Niedergangszeit und einem fast völligen Zusammenbruch von Kultur und Zivilisation, in der das Subjekt mit seinen Leidenschaften und seiner undisziplinierten bodenlosen Kreativität triumphierte und die im Chaos endete…. Diese Zeit liegt nun schon viele Generationen zurück, eine strenge geistige Elite hat sich des alten Kulturerbes bemächtigt und wendet es um und um in geistreichen Spielen und vor allem im Meisterspiel: dem Glasperlenspiel, das „einst, vor Generationen, begonnen (hatte) als eine Art von Ersatz für die Kunst, und es war, für viele wenigstens, im Begriffe, allmählich zu einer Art von Religion zu werden…“ (S. 144)

Viele Textpassagen unterstreiche ich. Es sind die Stellen, die mich, wenn auch völlig anders zugeordnet, an Aktuelles erinnern. Zum Beispiel die Besitzlosigkeit, die fast gleichlautend vom World Economic Forum im „Great Reset“ angedacht wurde: „Du wirst nichts besitzen und glücklich sein.“ Bei Hesse ist das raffinierter eingebaut und gilt nur für die geistige Elite. Gerade für hohe Begabungen wäre Freiheit „eine schwere Gefahr und müsste vielen zum Verhängnis werden, wie es in den Zeiten, vor unserer Ordnung, in den vorkastalischen Jahrhunderten, unzähligen hohen Begabungen gewesen“ sei. (S- 115) Keine Freiheit, also sind auch die traurigen „Schiffbrüche eines ungezügelten Dilettantismus“ Vergangenheit. Der Hochbegabte wird durch weise Anordnungen vor „Verlockungen und Gefahren“ , vor „Trunksucht“ und „sportlichen Exzesse(n)“ bewahrt (116). „Da es für den Kastalier kein Geld und so gut wie kein Eigentum gibt, existiert auch die Käuflichkeit der Liebe nicht“. (S. 116).

Oder eine andere Passage, wo es um die Faszination der Macht geht  „Es war schön und hatte etwas Verlockendes, Macht über Menschen zu haben und vor anderen hervorzuglänzen, aber es hatte auch eine Dämonie und Gefahr, und die Weltgeschichte bestand ja aus einer lückenlosen Reihe von Herrschern, Führern, Machern und Befehlshabers, welche mit unendlich seltenen Ausnahmen alle hübsch begonnen und übel geendet, welche alle, jedenfalls angeblich, um des Guten willen nach der Macht gestrebt hatten, um nachher von der Macht besessen und betäubt zu werden und sie um ihrer selbst willen zu lieben.“ (S. 143) Und was ist die Antwort von Kastalien? Sich „in den Dienst der Hierarchie“ zu stellen!

Nun, das vorerst. Vielleicht schreibe ich später noch ein wenig mehr dazu.

(Das Foto nahm ich imfebruar 2022 im „„NEW HUMANITY CENTRE“ auf, das wohl so was Ähnliches wie das Hesse’sche Kastalien zu werden hoffte und scheiterte)

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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9 Responses to Tagebuch der Lustbarkeiten: Lesen, vergleichen (Anmerkungen zum Glasperlenspiel)

  1. Avatar von finbarsgift finbarsgift sagt:

    Feine Anmerkungen zu einem Buch, das mich mal sehr beeindruckt hat …
    Liebe Sonntagsgrüße vom Lu

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      An dich muss ich bei der Lektüre tatsächlich oft denken, lieber Lu, denn die Verbindung von Mathematik, Musik und anderen Künsten ist ja bei dir zu finden, dazu auch macht dich deine gesamte Lebensphilosophie, soweit sie mir erkennbar ist, zu einem potentiellen Glasperlenspieler. 🙂 Gestern hörte ich im staatlichen TV (Parlaments-TV) die Madrigali von Monteverdi )https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https://www.arte.tv/de/videos/105448-001-A/madrigali-guerrieri-e-amorosi/&ved=2ahUKEwid4NGo8suHAxUbR_EDHeKTCUQQwqsBegQIFxAF&usg=AOvVaw21-FaVy_NVTDZx2Uj5U_n0) …

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      • Avatar von finbarsgift finbarsgift sagt:

        Lächel … wie schön, liebe Gerda 💐
        In der Tat sehe ich mich selbst immer mal wieder auch als Magister Ludi *lächel*
        Herzliche Grüße vom Lu Finbar

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Lu wie Ludi 🙂

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  2. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Wie schön, dich bei deinem Lesen und den Gedanken dazu zu begleiten. Danke!

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  3. Avatar von Unbekannt Anonymous sagt:

    Wann alles schreibst du alles?!

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