Über die Schwerkraft nachsinnen (kleine Beobachtungen)

Nach dem Morgenspaziergang zum Nachbardorf, in dessen Kramladen ich ein paar Dinge einkaufe, hocke ich mich auf die Geröllkante, lausche dem Meer und dem Wind, nehme auch einen Stein in die Hand, betrachte ihn ein Weilchen, rätsele ein bisschen, woraus er wohl bestehe und was seine Geschichte sei – und werfe ihn zurück zu seinen Kumpanen. Er beschreibt einen leichten Bogen in der Luft, kullert ein Stück weit und bleibt liegen. Das war zu erwarten.

Der Stein ist vollkommen dem Schwerefeld der Erde ausgeliefert, er hat dem nichts entgegenzusetzen, denke ich und bedaure ihn ein bisschen. Ich selbst kann mich, wenn auch mit zunehmendem Alter mühsamer, aufrichten, auf die Beine stellen und nach eigenem Ermessen bleiben oder davon gehen.

Wie ist es denn mit den Pflanzen? Die schaffen es, die Schwerkraft zu überwinden und sich aufzurichten. Ein Stein kann das nicht, aber das allerkleinste Blümchen vermag es. Welche Kraft ist es wohl, die sie der Schwerkraft entgegenzusetzen vermögen? Sie sind lebendig, der Stein nicht. Was aber heißt das: lebendig sein? Gibt es so etwas wie eine Lebenskraft, vergleichbar der Schwerkraft?

Manche Blumen schaffen es grade mal, ein bisschen über den Wurzelbereich hinauszuwachsen. Andere können ihre Blüte mithilfe eines hohlen Stängels hoch hinauf in den Luftraum tragen. Beide streben nach dem Licht. Oder ist es das Licht, das sie nach oben zieht, so wie die Schwerkraft sie nach unten zieht?

Über den Steinwall kommt ein Vater mit seinem Kind gewandert. Der kleine Junge ist noch unsicher auf seinen Beinchen, immer wieder fällt er hin, rappelt sich auf, fällt hin. Er kämpft mit der Schwerkraft, denke ich. Er will sie überwinden. Wenn er größer wird, wird er hüpfen und springen wollen, am liebsten natürlich fliegen. Letzteres wird er nicht können. Höchstens können ihn die Eltern zwischen sich hin und her sausen lassen, so dass er juchzt und schreit: ich kann fliegen. Von Fliegen kann aber keine Rede sein. Er kann es nicht. Warum nur? Was hat ein Vogel, und er hat es nicht? Wieso ist er dem Schwerefeld stärker ausgeliefert als ein Schmetterling? Es sind nicht nur die Flügel, die ihm fehlen – die könnte er ja nachbauen. Es fehlt ihm alles zum Fliegen. Sein Körperbau, die Dichte seiner Knochen lassen es nicht zu. Er ist nicht zum Fliegen gemacht. Er wird immer an den Boden gebunden bleiben – entweder an den Boden der Erde oder an den eines Fluggeräts. Die Raumkapsel kann ihm einen Moment der Illusion des Fliegens schenken – aber was für ein Fliegen ist das schon? So in einer Kapsel rumzuschweben hat ja nichts, was sich mit dem freien Flug einer Schwalbe vergleichen ließe. Dann schon eher Drachenfliegen, obgleich auch das fade ist: immer muss man erst einen Berg rauffahren, um sich von da oben runtersegeln zu lassen.

Natürlich sind auch die Vögel dem Schwerefeld der Erde ausgeliefert, aber sie haben dem etwas entgegenzusetzen, was wir nicht haben. Anatomisch betrachtet, sind es außer den Flügeln vor allem ihre mit Luftsäcken gefüllten Hohlknochen, in die Luft wie mit dem Blasebalg hineingepumpt wird. Luft in den Knochen – und aufwärts gehts!  Auch die Flugsaurier hatten solche Knochen.

Ich stemme mich vom Boden hoch, nehme die Tasche mit den Einkäufen über die Schulter, und wandere heimwärts. Das Schwerefeld zerrt an mir und meiner Tasche. Früher hätte es mir nichts ausgemacht, nun aber muss ich immer wieder ein Päuschen einlegen. Was ist das für eine Kraft, die der junge Mensch hat und die dem alten zu fehlen beginnt, so dass er mehr und mehr der Schwerkraft ausgeliefert ist, bis er sich gar nicht mehr erheben kann? Ist es das Mineral in ihm, der Stein, der ihn zu Boden zieht, sobald er ihm keine Aufrichtekraft mehr entgegenzusetzen vermag? Und diese Aufrichtekraft: was ist das?

 

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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17 Antworten zu Über die Schwerkraft nachsinnen (kleine Beobachtungen)

  1. afrikafrau schreibt:

    Mein geschriebener Kommentar ist weg – dohin ist er geflogen????

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  2. afrikafrau schreibt:

    Unsere Phantasie, die KREATIVITÄT zu besitzen verleiht uns oft LÜGEL
    In Pausen Kraft schöpfen, dir wir benötigen, um immer wieder zu starten, so ungefähr lautete mein Kommentar……..

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  3. Gisela Benseler schreibt:

    Danke, Gerda. Zwei ganz wunderschöne Fotos sind das, begleitet und umrankt von vielen tiefsinnigen Gedanken. Wie viele Menschen haben sich schon Gedanken darüber gemacht! Doch so ganz unmittelbar, den Stein in der Hand fühlen, die Blume wachsen sehen, die eigene Schwerkraft oder Aufrichtekraft zu fühlen, ist ja jedesmal wieder ein neues Erlebnis, vor allem für das Kind, das das Laufen erlernt. Das ist sicher eine ganz wichtige Erfahrung für jeden Menschen.🌷🍀🕊️🌞

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  4. derdilettant schreibt:

    Schwerer als die Schwerkraft wiegt wahrscheinlich, sich mit der schwindenden Lebensenergie im Alter abzufinden. Insbesondere, weil junge Menschen die ihnen geschenkte Energie gar nicht zu schätzen wissen, denn sie kennen es nicht anders. Aber so ist es oft – erst in der Rückschau begreift man, was man hatte. Ein schöner, wehmütiger Text, ersonnen an einem wirklich schönen Ort, scheint mir.

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  5. bonanzamargot schreibt:

    am ende landen wir sogar unter der erde.

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  6. Die meisten Lebewesen (Insekten et al.) haben keine Probleme mit der Schwerkraft, sie werden allenfalls zum Spielball der Lüfte…

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  7. Das Licht zieht die Pflanzen in die Höhe…

    Wie schön ist diese Vorstellung, liebe Gerda

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