Bei der gestern besuchten Ausstellung von Nelly΄s fiel mir eine Foto-Gruppe ins Auge und brachte mich zum Nachdenken. Es handelt sich um die Gruppe „Parallelen“: antiken Kunstwerken werden jeweils passende zeitgenössische Menschen zugeordnet – dem Zeus ein zeitgenössischer Bärtiger mit Hirtenstab, der Göttin mit dem „klassischen“ Profil eine Bäuerin, dem antiken Kalbsträger ein Hirt, der auf die gleiche Weise sein Tier trägt, der Keramikgruppe Tänzerinnen in Trachtenkleidung …
Auch mir geht es gelegentlich so, wenn ich einen Menschen, eine Szene sehe, dass mir die antike „Parallele“ ins Auge sticht. Immer noch steht der Hirt, auf seinen Stab gestützt, so da, wie er vor Urzeiten stand, immer noch tanzen Frauen ihre Rundtänze wie einst, und oft genug denke ich beim Anblick eines ehrwürdigen Greises mit wallendem Bart oder bei einer Frau mit „klassischer“, fast ohne Einkerbung von der Stirn sich fortsetzender Nase an die aus frühen Zeiten überlieferten Abbildungen.
Doch hier in der Ausstellung handelt es sich nicht um spontane Wahrnehmungen, sondern um Programm: eine Nation, ihrer selbst noch nicht sicher, schafft sich eine Identität, indem sie sich mythologisch, rassisch und kulturell auf eine längst vergangene Epoche beruft. Man konstruiert eine Kontinuität, die den Anspruch auf eine eigene unverwechselbare „nationale Identität“ begründet. Das ist nicht weit entfernt von ähnlichen Bestrebungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Romantik, Wagner), die dann während der 20-30er Jahre des vorigen Jahrhundert krankhaft-rassistische Züge annahmen. Ähnliche Tendenzen finden sich auch heute noch bei vielen „in der Entstehung befindlichen Nationen“, aktuell u.a. in der Ukraine.
Nelly hat ihre künstlerische Ausbildung während der 20er Jahre in Dresden erhalten. Ihre Lehrer waren Hugo Erfurth und Franz Fiedler (von den Arbeiten dieser beiden ist fast nichts erhalten, da ihre Archive zerbombt wurden). Im Text des Benaki-Museums wird dieser Einfluss ihrer Lehrer so zusammengefasst: „die ihr eine neue Herangehensweise an die Fotografie und die europäische Neoromantik nahebrachten“.
Hellas, das waren in der Romantik des 19. Jahrhunderts der Hirtenknabe und die schöne Schäferin, vielleicht auch der nachdenkliche Philosoph in antiken Ruinen. Stellvertretend für diese europäische Sicht auf Hellas sei das Bild von Nicolas Poussen zitiert: Et in Arcadia ego.
Das romantische Griechenland-Bild half, etwa mit der Begeisterung Lord Byrons oder den Gemälden von Delacroix, den diesem Bild kaum entsprechenden Griechen in ihrem Befreiungskampf gegen das Osmanische Reich. Nelly modernierte das Bild ein wenig, passte es an den Neo-Romantizismus des beginnenden 20. Jahrhundert an. Und so gibt es bei ihr nicht nur Bäuerinnen und Hirten, sondern auch schöne Ausländerinnen, die ihre Schleiertänze zwischen den heiligen Ruinen tanzen, und Fotomodelle präsentieren die neu erfundene „griechische“ Mode zwischen den Ruinen.
Nelly arbeitete Ende der 30er Jahre unter der deutschfreundlichen Metaxas-Regierung für das neu entstandene Touristik-Ministerium und machte sich sehr verdient um die neue „Marke“ Griechenland. Ihr fotografischer Blick, der auch in den USA populär wurde, prägte das Label, dass sich dann gut als touristisches Produkt verkaufte und weiterhin verkauft. Das, was als „Hellas“ beworben wird, ist nicht das, was Griechen für sich selbst als wichtig empfinden, sondern ist vom Außenblick – von den Erwartungen des Kunden – geprägt.
(Originalfoto von Nelly’s 1938 und Foto aus dem Touristik-Ministerium 2019)
Ein nostalgischer Teil der Griechen hängt diesem Bild an. Sie waren es denn wohl auch vor allem, die ich nachdenklich vor den Bildern stehen sah, die „ihre“ Kultur in der Welt berühmt machten. So waren wir? Das waren wir? Wer waren wir? Wer sind wir heute? schienen sie zu fragen.
Viele Heutige aber wollen dieses antikisierend-bukolische Bild endlich loswerden und Griechenland als modernen Staat „neu erfinden“. „Re-labeling“ nennt man diesen Vorgang, der wohl auch grad in Deutschland abläuft, das sich vom Label eines tolle Autos produzierenden Landes verabschiedet und als Vorkämpferin für grünes Denken und Frauenrechte zu etablieren versucht.
Nelly selbst stammte aus Kleinasien, aus einem Griechentum, das sich durchaus nicht über Hirten, Volkstänze und physiognomische Ähnlichkeiten mit der Antike definierte. Man war modern, städtisch, christlich. Das kleinasiatische Griechentum wurde 1919-1923 entwurzelt und in alle Winde zerstreut. Der Unternehmensgeist dieser Menschen war sprichwörtlich. Nelly’s war eine davon. Aristotelis Onassis ist ein anderes Beispiel.
vielleicht sage ich hier was falsches: mir fehlt (schon lange oder immer wieder) bei der darstellung bzw. bei dem vorstellen von kunst die leidenschaft.
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Leidenschaft zeichnet wohl den guten Künstler aus, nicht aber im selben Maße den Betrachter. Doch manchmal entzündet sich auch des Herz des Betrachters. In diesem Fall nicht: Ich bewundere Nelly, aber sie nimmt mich nicht mit.
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Die Parallelen zwischen griechischer Antike und heute lebenden Menschen, also die Ähnlichkeiten , finde ich faszinierend.
Andererseits kann man zu dem Schluß kommen, daß sich in all den Jahrhunderten nichts geändert hat.
Das was gut und schön ist, kann sich auch heute noch – im einfachen Gewand – sehen lassen.
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Sehr erhellend, liebe Gerda. Und man realisiert mal wieder, dass Kunst eben nicht im „leeren“, nur der Idee verpflichteten Raum entsteht, sondern auch Künstler in gesellschaftliche Situationen und Erwartungen eingebunden sind. (Große Ausnahme und hierin für mich immer noch unerreicht van Gogh, der ohne Rücksicht auf Status etc. nur seiner künstlerischen Vision verpflichtet blieb)
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Danke dir. Ja, selbstverständlich sind auch Künstler „in gesellschaftliche Situationen und Erwartungen eingebunden“ – macht das aber ihre Kunst weniger bedeutungsvoll? Sicher, je mehr das der Fall ist, desto mehr wird ihre Kunst in der Wirkung räumlich-zeitlich beschränkt bleiben. Doch auch in dieser Beschränktheit kann sie Ideen transportieren, die weit über die Zeit hinaus wirken. Nimm zB Goya oder Velasquez oder El Greco – alle drei ins spanische „Protokoll“ eingebunden und in ihrer Wirkung bis heute kein bisschen verblasst.
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Du hast völlig recht, und so meinte ich es auch nicht. Das Eingebundensein macht die Kunst in keinster Weise weniger bedeutsam oder ausdrucksstark. Die von dir genannten spanischen Maler sind herausragende Beispiele dafür.
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dann sind wir uns einig.
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Pingback: Philosophie? Poesie! « derschwarzekater
Es ist ein schwieriger Tanz um solche Begriffe wie „Volkscharakter“. Ein jeder spürt wohl, dass es so etwas gibt, aber sie festzumachen scheint fast unmöglich. Mich beschäftigt das Thema, da ich in einem anderen als meinem Geburtsland lebe und mir die Unterschiede natürlich ständig vor Augen liegen. Doch sowie ich sie in Worte zu fassen suche, gerate ich ins Klischee. Leichter ist es mit den Unterschieden der Sprachen, da kann man schon vieles deutlich herausarbeiten. Oder mit den Landschaften. Oder mit den großen historischen Verläufen. All das bündelt sich dann im „Volkscharakter“. Deine Charakterisierungen sind überzeugend – bis zu einem bestimmten Grad. Nun müsste ich meine Gedanken dazu, auch meine Einwände ausführen, müsste ins Einzelne gehen und würde mich vermutlich in die Nesseln setzen, unzufrieden mit mir, missverstanden von anderen.
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