„Dora“, sage ich zu Dora. „Du hast tolle Arbeit geleistet. Siebzehn Interviews hast du absolviert! Uns fehlt nun nur noch ein einziges Interview. Es hat sich ja ziemlich gegen Ende eine Dichterin beworben. Wunderbarer Weise bekam sie die meisten Stimmen, obgleich sie nicht besonders schön und zu allem Überfluss auch noch blind ist. Doch ihre Worte haben bezaubert. Poesie, so befanden viele unserer Leserinnen und Leser, sei das Salz der Erde, ohne Poesie sei das Leben unerträglich und dergleichen. Kannst du sie bitte aufsuchen und ein bisschen befragen?“
„Wo finde ich sie denn?“ fragt Dora. „Schreibt sie was darüber?“ Ich schaue nach. „Hier steht:
„Leichten Schrittes und poetisch beflügelt durchlebe ich unsere schwere Zeit. Himmel bin ich und Acker, Sonnenaufgang und Nebelschwaden. Die Toten grüße ich und lausche dem Nachtwind. Alles fließt durch mich hindurch. Manches verwundet, manches erfreut, manches glüht nach – dann bleiben Spuren zurück…. Also nein, ich fürchte, das hilft uns nicht weiter.“ –
„Ich find sie schon!“ versichert Dora selbstbewusst und schwirrt davon.
Mit sicherem Gespür für die einer heutigen Dichterin angemessene Umgebung begibt sie sich an die ausgefranste Peripherie unserer Stadt. Ja, dort geht die blinde Dichterin, leise einen Text vor sich hinsprechend.
„Hallo!“ grüßt Dora freundlich. „Was sind das, bitte, für Worte, die Sie da aufsagen?“ Die Dichterin stutzt und lächelt. „Nanu? Wer fragt denn da?“ – „Ich“, sagt Dora. „Ach ja, so, du bist die Dora“, antwortet die Dichterin erfreut. „Die Worte, liebe Kleine, sind nicht die meinen, sie stammen aus einem anderen Mund*. Aber wenn es dir Freude macht, will ich sie dir gern rezitieren. Ich fand sie auf der siebenundzwanzigsten Seite eines Büchleins, das „reste der landschaft“ heißt. Du wirst gleich bemerken, wie wohl gesetzt die Worte sind.
das kontrollierbare franst aus
an den rändern was wächst wird zu rauch
was lebt wird zu lehm
knistern im offenen feld schnee mischt
sich ein und verwischt die wehrlosen reste
der landschaft
das kontrollierbare franst aus
an den rändern sitzt unsere braut sitzt
fädelt flickt
Dora legt ihr Köpfchen schief und lauscht. „Unsere Braut?“ fragt sie dann. „Wer wird das wohl sein?“
*Dieses Gedicht von Pega Mund habe ich schon einmal hier gepostet. Ich finde, dass bei Gedichten einmal=keinmal ist. Die blinde Dichterin gibt mir hoffentlich Gelegenheit, Dichtung, die ich bewunderungswürdig finde, die aber keine breite Leserschaft hat, im kommenden Jahr vermehrt zu berücksichtigen.
Ich erinnere mich an „das kontrollerbare franst aus“ , das mich schon damals sehr beeindruckt hat. Tut es natürlich immer noch …
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Ich finde diese Zeilen auch sehr eindrucksvoll. Sie spiegeln ein Lebensgefühl, das ich sehr gut kenne.
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