Dora interviewt die Kandidaten (14. Interview: Hedonie)

Heute befrage ich die Henodie“, kräht Dora. – „Hedonie heißt sie“, korrigiere ich. „Na und wenn!“, wischt Dora meinen Hinweis vom Tisch. „Meinetwegen kann sie auch Melodie oder Harmonie oder Kakophonie heißen. Hauptsache Musik.“ – „Wieso Musik? Mit Musik hat die Hedonie eigentlich … Aber vielleicht hast du Recht…., -odie klingt wie οδή (Ode*), und das heißt Lied, Gesang. ηδονή (Hedonie), auch griechisch, natürlich, ist aber doch ein anderes Wort, es bedeutet Freude, Lust, Genuss, Sinnlichkeit, was, wenn man es recht bedenkt, durchaus etwas mit Musik zu tun hat, denn Musik erregt das Gefühl….“

„Ich glaub, du bist das Gegenteil von dieser Henodie“, unterbricht Dora meine Erläuterungen. „Die klamüstert bestimmt keine Wörter auseinander, sondern will einfach nur leben, lieben und vergnügt sein. So wie ich. Und jetzt geh ich sie suchen!“

Weg ist Dora, und so habe ich keine Gelegenheit mehr, ihr zu verklickern, dass es klamüsern (und nicht klamüstern) heißt….

Dora kehrt ein paar Stunden später zu mir zurück. „Na?“ frage ich, „Wie ging es mit deiner Henodie? Hat sie gesungen?“ – „Das auch!“ so Doras Antwort. „Interviewen konnte ich sie nicht, leider. ΄Wenn du willst, wähl mich!‘ hat sie gerufen und ist in den Himmel gestürmt, ΄wenn nicht, lass es bleiben!‘ Ihr ist es egal, wie andere leben. ‚Jeder nach seiner Facon΄, hat sie noch geschrien, wie Jubel klang es in meinen Ohren. Kennst du ein Lied, in dem so was vorkommt wie ΄Ein Kuss für die ganze Welt΄? Das hat sie nämlich gesungen und ist dabei immer höher in den Himmel hinaufgewirbelt. Die ist echt gut drauf, wenn du mich fragst.“

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*Schillers „Lied an die Freude“ hat die Form einer Ode. Wer kennt schon den gesamten Text? Hier ist er.

An die Freude

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was der Mode Schwert geteilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Chor
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja – wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wers nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!

Chor
Was den großen Ring bewohnet,
Huldige der Sympathie!
Zu den Sternen leitet sie,
Wo der Unbekannte thronet.

Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod.
Wollust ward dem Wurm gegeben,
Und der Cherub steht vor Gott.

Chor
Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahndest du den Schöpfer, Welt?
Such ihn überm Sternenzelt,
Über Sternen muß er wohnen.

Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen,
Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.

Chor
Froh, wie seine Sonnen fliegen,
Durch des Himmels prächtgen Plan,
Laufet, Brüder, eure Bahn,
Freudig wie ein Held zum Siegen.

Aus der Wahrheit Feuerspiegel
Lächelt sie den Forscher an.
Zu der Tugend steilem Hügel
Leitet sie des Dulders Bahn.
Auf des Glaubens Sonnenberge
Sieht man ihre Fahnen wehn,
Durch den Riß gesprengter Särge
Sie im Chor der Engel stehn.

Chor
Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die beßre Welt!
Droben überm Sternenzelt
Wird ein großer Gott belohnen.
Göttern kann man nicht vergelten,
Schön ists, ihnen gleich zu sein.
Gram und Armut soll sich melden,
Mit den Frohen sich erfreun.
Groll und Rache sei vergessen,
Unserm Todfeind sei verziehn,
Keine Träne soll ihn pressen,
Keine Reue nage ihn.

Chor
Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.

Freude sprudelt in Pokalen,
In der Traube goldnem Blut
Trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut – –
Brüder, fliegt von euren Sitzen,
Wenn der volle Römer kreist,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:
Dieses Glas dem guten Geist.

Chor
Den der Sterne Wirbel loben,
Den des Seraphs Hymne preist,
Dieses Glas dem guten Geist
Überm Sternenzelt dort oben!

Festen Mut in schwerem Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint,
Ewigkeit geschwornen Eiden,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen –
Brüder, gält es Gut und Blut, –
Dem Verdienste seine Kronen,
Untergang der Lügenbrut!

Chor
Schließt den heilgen Zirkel dichter,
Schwört bei diesem goldnen Wein:
Dem Gelübde treu zu sein,
Schwört es bei dem Sternenrichter!

Rettung von Tyrannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toten sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
Und die Hölle nicht mehr sein.

Chor
Eine heitre Abschiedsstunde!
Süßen Schlaf im Leichentuch!
Brüder – einen sanften Spruch
Aus des Totenrichters Munde!

(Quelle: Friedrich Schiller Archiv)

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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2 Antworten zu Dora interviewt die Kandidaten (14. Interview: Hedonie)

  1. kopfundgestalt schreibt:

    Das ist ein alter verstaubter Rat, den man auch immerfort auf Gruß-Karten aller Art liest. Schon als Kind mochte ich das nicht. Natürlich auch dadurch, daß ich immer zu kämpfen hatte. Ich war da in der Klasse wahrlich nicht allein, aber man verbündete sich da nicht. Jeder ein eigenes Schicksal.

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  2. Gisela Benseler schreibt:

    Das vollständige „Lied an die Freude“ von Friedrich v. Schiller las ich noch nie. Herrlich! Doch den „Brüdern“ im Geiste zugeprostet.

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