Haut-feurig-schweben
Hat mich doch der Teufel geritten und habe wieder einmal Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ gelesen. Ich wusste ja, wovon sie handelt, aber die Einzelheiten waren mir entfallen. Das Zeremonielle der Hinrichtung, die fast zärtliche Beschreibung des Folterinstruments: Bett und Schreiber, und dazwischen „schwebt“ die Egge, die sich hinabsenkt auf den bäuchlings ausgestreckten nackten „Verurteilten“ , um in seine Haut einzuschreiben, was er in zwölf Stunden zu lernen hat, bevor der Spieß seinen Leichnam durchspießt und in die Grube schmeißt. Mit vielen Verzierungen wird der Urteilsspruch in die Haut gestanzt. Um die Schrift zu vertiefen, wurden die in die Haut gestanzten Löcher früher mit einer feurig-ätzenden Flüssigkeit betäufelt, aber der neue Kommandant hat das zum Leidwesen des Offiziers, der zugleich Richter, Maschinist und Exekuteur ist, abgeschafft. Im beschriebenen Fall ist die zu lernende Message „Ehre deinen Vorgesetzten!“
»Kennt er sein Urteil?« »Nein,« sagte der Offizier …»Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.«
Der „Reisende“, der all dies mit Befremdung aufnimmt, ist dann auch Zeuge der dramatischen Wende: Der Offizier begreift, dass die Zeit der herrlichen Maschine vorüber ist. Er regelt den Schriftzug neu und legt sich selbst unter die Egge, damit er im Sterben die neue Message begreife: „Sei gerecht!“ Aber die Maschine gibt buchstäblich ihren Geist auf. Sie zerfällt und mordet den Offizier auf ganz unzeremonielle Weise, so dass er rein gar nichts zu lernen imstande ist, bevor sein aufgespießter Leichnam in der Grube landet.
Ist diese Geschichte damit beendet? Nicht ganz. Der Reisende begibt sich zum Grab des alten Kommandanten, der die Maschine erfand und zu höchsten Ehren brachte. Auf der Grabplatte steht eine Prophezeiung: Der Alte werde zurückkehren. Der Reisende beeilt sich, die Insel zu verlassen.
Mein Legebild „In der Presse“ nimmt indirekt auf diese Geschichte Bezug.
300 Wörter
Das so etwas Grauenhaften menschenmöglich ist….Leider aber immer wieder geschehen.
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Diese Geschichte ist natürlich fiktiv. Kafka hat da etwas beschrieben, das dann in anderer Form Realität wurde und wird.
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Mit „Verrätern“ ist schon immer entweder kurzer Prozess gemacht worden oder sie wurden langwierig gefoltert. Siehe Kirchengeschichte; siehe der Jauche-Trunk, den die Schweden im 30-jährigen Krieg verabreicht haben. Nur die Nazis waren da etwas anders: sie habens gleich groß an die Tore der Todeslager geschrieben und die eigenen SS-Leute tätowiert, damit sie ja keinen Rückzieher machen konnten.
Da mag man auch nur ein Like für die Schreibweise geben.
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Ich weiß nicht, wieso du hier von „Verrätern“ sprichst, Werner. Hat mit der Erzählung nichts zu tun. Was die Nazis anbetrifft: Die haben vor allem die „Insassen“ tätowiert, wie du sicher weißt.
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Davon habe ich gesprochen, bevor ich jetzt die Erzählung im Original gelesen habe. Und die zeigt m.E. auf, dass Nichtstun (Reisender) bedeutet, dass man sich mitschuldig macht. Ob das kurz nach Ende WK I von Kafka schon weitsichtig in Bezug auf das spätere Nazi-Regime war, möchte ich bezweifeln. Aber auch so kann man sicherlich viele Beispiele aus der Vergangenheit anführen, die ähnlich gelagert sind. Geschichte wiederholt sich offensichtlich
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danke, Werner. Die Geschichte ist 1912 erstmals veröffentlicht worden, also vor dem 1. Weltkrieg. Es ist eine Parabel und nicht an bestimmte historische Ereignisse gekoppelt. Der Satz „Geschichte wiederholt sich“ ist meiner Meinung nach nur richtig, wenn man ausreichend von den besonderen Vorkommnissen abstrahiert. Wer zB meint, der Faschismus käme genau so wieder wie einst, mit Aufmärschen , Uniformen und Judenhass, der erfasst nicht den geistigen Kern dessen, was sich wiederholt.
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Ja, das sehe ich auch so. Mir scheint, das Prinzip ist immer wieder „ich will die Welt retten“ bzw. „euch eine bessere und gerechtere Welt schaffen“.
Das Dilemma, wie auch bei dem Offizier, ist ja, dass er sein Tun für redlich hält.
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Oh wie schrecklich! Wir wissen, dass der Mensch zu allem fähig ist. Der Kampf zwischen gut und böse findet in jedem Menschen statt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.
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Da hast du wohl recht, lieber Peter. Kafka führt es uns vor Augen. In seiner Erzählung ist sich der Täter des Bösen seines Tuns nicht bewusst, im Gegenteil, er hält sein Tun für die Krönung der Gerechtigkeit, und er wird schließlich seines eigenen Wahnsinns Beute. Der Beobachter ist der Situation auch nicht gewachsen: anstatt einzugreifen oder zumindest klare Stellung zu beziehen, nimmt er Reißaus. Der Verurteilte weiß nicht, warum er verurteilt ist, aber er spürt klar, was am Ende stattfindet: nicht Gerechtigkeit, sondern Rache! Und das freut ihn sehr. .
Nun mag jeder, der will, das Paradigma auf die aktuelle Situation in deinem Land Kanada beziehen, in dem das Kriegsrecht verhängt wurde, und seine Schlüsse ziehen.
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Die kanadische Regierung hat niemanden tagelang gefoltert und niemanden hingerichtet sondern die wichtigen Verbindungsstraßen frei gemacht, die seit Wochen besetzt waren. von Leuten, die meinen sie können alle anderen in Geiselhaft nehmen. Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht
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Da hast du freilich Recht, Myriade: weder „tagelange Folter“ noch Hinrichtungen gab und gibt es in Kanada. Ich habe es auch nicht behauptet. (Selbst in der Erzählung gibt es sie nicht mehr, sie kommt nicht zustande). Die Ereignisse in Kanada erwähne ich nur wegen Peter, auf den ich antworte. Hätte ich auf dich geantwortet, hätte ich wohl Österreich erwähnt.
Mein Bezug der Erzählung auf die Gegenwart ist ein sehr komplexer, und nur nachzuvollziehen, wenn man ein ähnliches Grundgefühl hat, nämlich der Absurdität, während sich die alten Ordnungsprinzipien auflösen.
Die Maschine löst sich auf, der „Offizier“ wird, ohne zu begreifen, durch sein eigenes System umgebracht, Unbekannte erhoffen sich die Wiederherstellung des alten Systems, der Reisende entflieht. Das, was die Auflösung begleitet, ist das „breite, lautlose Lachen“ des Verurteilten: „Besonders der Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines großen Umschwungs getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier. … Das war also Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis zum Ende gerächt. Ein breites, lautloses Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand nicht mehr.“
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Ich kenne die Erzählung nicht, aber so wie du sie beschreibst, wunderte es mich sehr, dass du irgendwelche Bezüge zu Kanada herstellen wolltest.
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wenn du sie nicht kennst, Myriade, brauchen wir ja auch nicht darüber zu reden, was sie womöglich transportiert.
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Wie aus allen guten literarischen Texten kann man sicher vieles herauslesen.
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Ich muss passen. Ich stelle fest, dass ich die „Strafkolonie“ nie gelesen habe, und ehrlich gesagt reicht mir deine Beschreibung für einen Kommentar nicht. Kommt auf meine Liste 🤔😏👍
Abendgrüße 😏🌧️🍷🍕👍
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du brauchst aber gute Nerven dafür..
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Dann schau ich rein und schiebe es eventuell auf … 🤔😕
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Dein Legebild ist sehr eindringlich, Kafkas Erzählung nur schrecklich. Das Bösartige, das so bittere Blüten treibt, ist mir widerwärtig und ich werde mich hüten, die Strafkolonie zu lesen.
Die Realität reicht mir schon, Gerda.
Ich verstehe aber sehr gut, was Kafka damit sagte.
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Ich versteh das gut, Bruni. Bei mir ist es anders: ich muss immer hinsehen, sonst fürchte ich mich zu sehr.Hinschauen hilft mir.
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Eine von den Geschichten von Kafka, die man mit in die Träume nimmt oder aus ihnen zu kommen scheinen
Lang ist es her, aber ich glaube einmal lesen war genug.
Eine ziemlich gute Adaption gibt es seltsamerweise in einem der Harry Potter Bücher, wo die Sätze die der Junge als Strafarbeit schreiben muss, sich magisch in seine Haut ritzen.
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