Als ich zum Meer runtergehe, stolpere ich über eine Unebenheit im Weg und fange mich grad noch auf, ohne zu stürzen. „Du passt nicht auf!“ ruft erschrocken Dora, die sich an meinem Hals festklammert, um nicht ihrerseits auf dem Boden zu landen.
„Schon gut“, sage ich, „ging ja noch mal gut“. – „Du passt nicht auf! Du musst aufpassen!“ wiederholt Dora vorwurfsvoll. – „Klar, sicher“, antworte ich und spaziere weiter. – „Aber du passt nicht auf!“ besteht Dora. „Du bist in deinem Kopf anstatt in deinen Augen und Ohren. Oder hast du bemerkt, was da neben uns am Wege wächst?“ – Ich werfe einen kurzen Blick in die angegebene Richtung. „Agaven“, sage ich. „Und? Die habe ich schon x mal gesehen“.
„Was du so ’sehen‘ nennst. Ein Name, und schon verschwindest du wieder in deinem Kopf. Habe ich recht?“ – Ich fürchte, sie hat Recht. Das Wort wars, das ich wahrnahm, nicht die Pflanzen. Ich dachte an Agave, eine der Töchter von Kadmos und Harmonia, von deren Hochzeit Roberto Calassi so wundervoll zu erzählen weiß. Auf Samothrake heirateten sie. Samothrake – mon amour. Kadmos war von seinem Vater losgeschickt worden, um sein Schwester Europa zu suchen, die Zeus entführt hatte. Europa. Von dieser Entführung sah ich heute ein eindrucksvolles Bild, in Susanne Hauns Blog, an die dachte ich auch. An Susanne und Europa und wohin sich Europa bewegt … und wenn man so vor sich hindenkt, kann man schon mal ins Stolpern geraten.
„Hast du auch das Babyblatt bemerkt?“ – „He?“ – „Na, dort, das Babyblatt. Ist es nicht nett, wie es da in den Armen des größeren Blatts liegt, als wär es seine Mutter?“
Babyblatt. Ich lächele. Ja, wahrhaftig. Bis das zur Blüte kommt… Hundert Jahre, sagt man, braucht die „Hundertjährige“, um zu blühen. Einmal nur blüht sie, dann stirbt sie ab, aber inzwischen sind viele viele Babypflanzen nachgewachsen, und die werden dann auch mal blühen.
„Du bist schon wieder woanders.“ Dora zupft an meinem Ohr. „Bleib mal stehen! Guck mal, dies Muster auf dem Blatt. Ein Abdruck von einem Babyblatt, das hier heranwuchs. Und nun kannst du meinetwegen über den Abdruck von Babys auf Mutterblättern nachsinnen – dir wird schon was einfallen.“
Dora, Dora, mach dich nicht über mich lustig. Ich kann ja nicht nur einsammeln, was du mir hunderttausendfach bietest, ich muss es ja auch irgendwie einordnen. Jedes Ding, jede Pflanze, jeder Mensch, jeder Sonnenuntergang, den ich sehe, will sich ja einweben in den Stoff meines Lebens.
Das Wesen macht dich aufmerksam, kennt dich genau. Das ist gut- und siehe, ganz nah hinschauen geht so besser. Ich überlege, wie mein Schutzwesen heißen würde, vielleicht Wanka.
Schöne Grüße mitten in der Nacht
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Wanka gefällt mir – aber ob es schützt? Oder selbst Schutz braucht? Dora schützt mich nicht. Sie schenkt und fordert mich manchmal heraus. Ich taste mich langsam an ihren Charakter heran.
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Nicht weil man Augen hat sieht man. Auch Sehen will gelernt sein. Botschaften einer schönen Geschichte! 🙂
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Danke Joachim. 🙂 Hast du den orange Ring um den Mond gesehen (voriger Eintrag) und kannst du ihn erklären?
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Ja, den habe ich gesehen und kenne solche Fakes von eigenen Handyaufnahmen. Da die Flächenhelligkeit des Monds in der Mitte so groß ist, dass keine Farbdifferenzierung mehr erfolgt, hat man dort durch das Phänomen der Überstrahlung: einheitliches Weiß. Zum Rand hin könnte die Farbgebung der tatsächlich gesehenen Farbe nahekommen. Denn der tiefstehende Mond hat aufgrund des langen Weges des Lichts durch die Atmosphäre eher eine in Gelbliche, orangene oder manchmal sogar ins Rötliche gehende Färbung (ähnlich wie bei der auf- und untergehenden Sonne, nur nicht so intensiv). Des Weiteren – du hast ja durch Farbverstärkung einiges hervorgelockt – sind durch die Streuung des Lichts am Dunst und an Aerosolen in der Nähe des Monds auch noch andere Farbtöne im Spiel. Die Kamera schafft keinen kontinuierlichen Übergang zwischen diesen unterschiedlichen Farbregimen und schaltet abrupt von einer Farbe zur nächsten und weist daher so etwas wie eine Ringstrukturen auf.
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Herzlichen Dank, Joachim, für deine Erklärung. Eine Rolle spielt wohl auch der Flash, bei dem die Kameraleistung in Bezug auf Farbanalyse noch geringer sein dürfte. .
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Ja, das käme dann noch verschärfend hinzu.
Noch eine Bemerkung: Da wir oft ja nicht unbedingt auf eine „naturgetreue“ Wiedergabe aus sind, manchmal ja sogar durch Nachbearbeitung in das Ergebnis eingreifen, sind dies Fake-Effekte nicht immer nur negativ zu sehen…
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Nun, ich möchte doch gern selbst bestimmen, was fake und was echt ist. 🙂 (frei nach Churchills Ausspruch über die Statistik).
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Wir kennen das ganz gut. Wenn wir zum Strand gehen, erwischen wir uns immer wieder, dass wir im Kopf völlig woanders sind. Wir bemerkten, dass wir etwa eine Viertelstunde benötigen, um wirklich dort zu sein, wo wir sind. Für uns ist das eine Bemühung, die sich jedoch lohnt.
Herzliche Grüße vom Meer
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Danke, Klausbernd! Freilich lohnt es sich. Immer! 🙂 🙂
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Ein schönes Paar gebt ihr beide ab. Dora, die bittet zu sehen und wirklich wahrzunehmen und du, die ruhigere, die sich einordnen will und muss. Beides so wichtig und schön zu lesen. Danke euch.
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Danke Mitzi, für deine freundliche Würdigung unserer Kooperation. 🙂
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Reich ist Dein Leben, liebe Gerda!
Reich an Eindrücken und wie und wo Du sie einordnest
können wir manchmal hier bei Dir lesen.
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Danke, Bruni, für deine lieben Worte.
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Danke für den Hinweis auf meinen Blog, liebe Gerda und auch danke, dass du uns die Agaven zeigst. Die Baby-Agave ist wirklich behütet.
Ein Glück bist du nicht gestürzt. Ich kenne das gut, das in die eigenen Gedanken verspinnen.
Liebe Grüße von Susanne
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Danke, Susanne. Das mit dem Stolpern war fiction. 😉
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Ach, liebe Gerda, ich komme mir so begriffsstutzig vor, erst Malta und dann das Stolpern.
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