Heute war wieder mein zehnjähriger Freund D im Atelier, und wie immer wollte er als Erstes das Bilderlegspiel mit Maries einseitig eingefärbten Schnipseln spielen: abwechselnd legen – Farbe raten – umdrehen.
Das Bild errhielt den Titel „Zauberin Medusa“. Das erste ist das Orriginal. doch als Foto gefiel ihm Bild 2 besser. „Hat mehr“, meinte er.
Dreht man die Stücke auf die farbige Seite, verändert sich ihre Orientierung. Das sieht man gut auf Bild 4.
Danach waren wir mit Stimmübungen befasst, wobei D große Talente zeigte. Besonders beeindruckend war seine Nachahmung des Froschgesangs. Viele Tierstimmen erprobten wir, darunter ein Stück im Hühnerhof mit Hennen und Hahn und einem wütend bellenden Hund, eine sanft blökende Schafherde, wieherndee Pferde und ein spezieller, sehr hell klingender Vogelruf. Wir stellten Pfauen und Truthähne dar, sprachen über das Chamäleon und was Mimikry sei.
Dann malten wir (Thema: Wasserpolo, denn D’s Mannschaft hat an diesem Wochenende einen Wettkampf), und nebenbei fragte ich nach aktuellen Unterrichtsstoffen. „Justinian“ in Geschichte, „Justinian“ in Religion – beide beim Klassenlehrer. Wann Justinian gelebt habe und wo er geboren sei? wollte ich wissen und erfuhr, im 6. Jahrhundert und in Taurus. Wo das sei? Das wusste er nicht (und so schaute ich eben nach: in Tauresium, in der römischen Provinz Illyrien wurde dieser bedeutende byzantinische Herrscher geboren). – Mich aber hatte das Wort Taurus bereits auf eine andere Fährte gesetzt, der ich allzu gern folge: die Geschichte („Mythos“, korrigierte mich D) von Iphigenie. Auch das wusste er aus dem Effeff: dass sie angeblich Achill heiraten sollte, der aber gar nichts davon gewusst habe, und als man sie am Opferaltar töten wollte, sei er dazwischengegangen, aber Iphigenie habe gesagt, wenn ihr Tod nötig sei, damit die Flotte nach Troja auslaufen könne, dann wolle sie gern sterben. Aber sie sei schließlich nicht getötet worden, sondern ersatzweise eine Ziege, weil Göttin Artemis sie entführt und auf Taurus zu ihrer Priesterin gemacht habe. Und später? Da hat der Sohn von Agamemnon den Verwandten der Mutter Ägist töten wollen, aber die Mutter sei dazwischengegangen, und so habe er auch sie getötet. … Also, er wusste den Mythos (den ich sehr gut kenne) in allen Einzelheiten zu erzählen – freilich so, dass die Taten der Männer irgendwie gerechtfertigt erscheinen. Ich fragte ihn daher nach seiner Meinung: wie er das beurteile, dass die Tochter getötet werden sollte, damit das Heer nach Troja absegeln konnte. Und warum sie überhaupt nach Troja fuhren. „Wegen Helena“, sagte er, „aber die ist nur der Vorwand gewesen. Troja hat den Griechen sehr viel Geld abgenommen, wenn sie durch die Meerenge des Bosporus fuhren, daher wollten sie Troja zerstören“. Ja sieh einmal an, was so ein 10Jähriger doch alles schon weiß! Und wie realistisch-amoralisch seine Weltsicht!
Während wir so vor uns hinmalten und plauderten, erzählte ich ihm von meiner Sicht auf die Ereignisse des Trojanischen Kriegs: warum Helena eben doch nicht nur ein Vorwand gewesen sei. Denn sie war die Herrscherin von Sparta, und Klythaimnestra die von Mykene, und sie waren Schwestern. Ihre Männer Menelaos und Agamemnon aber seien Könige nur aufgrund ihrer Heirat mit den legalen Herrscherinnen gewesen. Als Paris Helena entführte, verlor Menelaos seinen legalen Status als König, drum musste er sie zurückholen. Damals habe nämlich noch das Recht des Matriarchats gegolten: Erbe war die Frau, und zwar immer die älteste Tochter der Mutter. „Matriarchat?“ Davon hatte er noch nie etwas gehört. Und so erzählte ich ihm meine Variante, warum Iphigenie getötet wurde und Orest seine Mutter tötete und von den Erynnien („Gewissensbisse“, meinte D) verfolgt wurde. Es sei die Zerstörung des Matriarchat durch das Patriarchat gewesen, die in den Mythos eingegangen sei.
Jetzt beschimpft mich bitte nicht, dass ich die mindestens seit Aischylos‘ Orestie herrschende patriarchale Propaganda durchkreuze und im Kopf eines Kindes womöglich ein Durcheinander stifte, so dass er beim nächsten Test die offizielle Variante der Geschichte mit meiner durcheinander bringt. Keine Angst, das wird er nicht. Er ist ein sehr gescheites Kind.
Am Ende wollte er noch ein Bild legen – diesmal aber mit anderen Schnipseln. Aus einem großen hölzernen Kasten griff er zwei Hände voll, und wir begannen – wieder abwechselnd – mit unserem Werk. Das Ergebnis gefiel ihm SEHR – und mir auch. Wie schon bei der obigen Zeichnung und bei den Masken ist eine Tendenz zur Abstraktion erkennbar.
Doch am Ende hat auch er das Figürliche entdeckt und dem „Kopf“ einen Schnurbart und eine Kravatte verpasst.
vielen dank, liebe gerda, für dieses viel-schichtige, viel-sagende „stundenprotokoll“.
herzlich: pega
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Danke, Pega. Es macht mir halt viel Spaß. Ich lerne so viel beim „Unterrichten“.
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geben und nehmen für beide seiten: das ist gut!
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Es ist bewundernswert, wie Du die Stunden mit D verbringst, und ich weiß nicht, wer von Euch beiden dabei mehr Spaß hat, Gerda.
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Weiß ich auch nicht, Bruni. Ich fragte ihn: was hat dir mehr Spaß gemacht: das Bilderlegen, das Theaterspielen, das Malen… „Alles“, sagte er. Das freute mich natürlich. Was mich betrifft: ich bin sehr froh und dankbar, Erfahrungen mit Kindern machen zu können. Großmutter bin ich ja nicht, leider,
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Du kannst es auch so wundervoll, liebe Gerda ❣
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