Es ist Nacht. Auf dem Tisch stehen noch ein halbvolles Bierglas, eine Bierdose, eine leere Bierflasche, eine Plastikwasserflasche, eine leere Glasschale, alles hart beleuchtet von der Tischlampe. Hinzu kommen nun ein paar Stifte und mein kleiner Zeichenblock. Und auf gehts.
Die erste Skizze siehst du oben: da sind die Dinge ordentlich beschrieben. Das plastizierende Licht und die Schatten lassen sie 3-dimensional erscheinen. Du kannst sie erkennen. „Da brauchts kein Photo“, würde Ulli vielleicht sagen.
Dann knipse ich die Lampe aus. Nur ein schwaches Restlicht fällt auf die Dinge und mein Blatt. Ich muss raten, was da vor mir ist, und erkenne nicht, was ich zeichne. Ich bin also fast blind.
Was ich erfasst habe, ist größer als bei der genauen Zeichnung: Da sind Geländerlinien, die Rundung eines Stuhls, die begrenzenden Tischkanten. Das Raumgefüge ist allso wiedergegeben. Die Gegenstände präsentieren sich in freiem Rhythmus, durchaus als Gefäße und Lampe erkennbar, aber ohne beschreibende Details. Diese unbekümmerte Herangehensweise gefällt mir, und ich mache gleich noch eine solche Skizze, diesmal weniger vom Tisch und mehr vom nur geahnten Treppenaufgang.
Dann aber gehe ich zum normalen Blindzeichnen über: Ich sehe die Gegenstände, verfolge aber nicht, was meine Hand auf dem Papier treibt. Sofort verengt sich mein Bickwinkel, bleibt im Rahmen des Tisches und seiner Gegenstände (darunter nun auch ein Buch).
Ich veruche dann, dieses Ergebnis auch sehenden Auges zu erzielen, aber es funktioniert nicht. Es entsteht nur ein primitives abstrahierendes Bildchen ohne die verrückte Dynamik der Blindzeichnung.
Daher beende ich meine nächtiche Zeichenübung so, wie ich begann: ich schalte das Licht aus und zeichne fast blind den Treppenaufgang und den gebogenen Rücken eines Stuhls.
So sieht meine Welt aus, wenn ich die Augen schließe.
Mal ein ganz anderes Experiment. Spannend beschrieben.
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das freut mich!
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Hast du wieder so klasse gemacht und ich weiß ja auch von meinem einstigen Malkurs wie es ist blind, ohne den Stift abzusetzen zu zeichnen. Ganz tolle Ergebnisse liebe Gerda!
Liebe Grüße von Hanne
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Danke, Hanne!
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Schön dir bei Blindzeichnen zu folgen.
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Sehr lebendig was Du machst!
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Das Experiment und seine Ergebnisse machen Freude, auf jeden Fall. Eine Frage bleibt bei mir: wie groß ist der Anteil des Wissens, des Kennens der Situation, die du vor dem Ausschalten des Lichts ja bereits genau studiert hattest, an dem Ergebnis.
Wie würde eine Zeichnung aussehen, wenn du dich arbeitsbereit auf deinen Platz setztest, die Augen schlössest, jemand anders ein Stillleben aufbaute, anschließend das Licht löschte, und du dann erst die Augen öffnetest, um zu zeichnen?
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Spannend, liebe Gerda, Dir hier zu folgen und Schritt für Schritt die Ergebnisse Deines Zeichnens zu sehen. Die erste Skizze im Dunkeln ist noch so sicher und sie gefällt mir besser als das Original. Die letzte Deiner Skizzen, fast blind gezeichnet, berührt mich sehr und ich schließe ebenfalls meine Augen und versuche mir ein Bild meiner sehr nahen Umgebung zu machen und erkenne, daß da wenig aufs Papier käme, denn ich fühle mich irgendwie hilflos ohne das Licht meiner Augen… Deine innere Stärke muß sehr groß sein, Gerda. Das kann ich auch mit geschlossenen Augen erkennen *lächel*
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O, danke, Bruni, besonders das mit der „inneren Stärke“, die ja irgendwann die einzige Stärke ist, über die man verfügen kann Sei von Herzen gegrüßt! Gerda
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Da hast Du wohl recht, liebe Gerda.
Liebe Grüße in die Nacht an Dich
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