Schreiben und fotografieren: „Angefangen wird mittendrin“

„Angefangen wird mittendrin!“ Das ist Jutta Reichelts 23. Vorschlag, um einen ins Stocken gekommenen Erzählstrom zum Fließen zu bringen oder um überhapt mit etwas zu beginnen. Sofort dachte ich an mein letztes Pong (https://gerdakazakou.com/2020/04/29/ping-pong-085/) und das Zitat aus der Vorrede zur Odyssee : „Wo du willst, beginne, Tochter des Zeus, erzähl uns die Geschichte“.  Und das tut Athene (Homer) dann auch. Die Geschichte des Odysseus beginnt „mittendrin“; der Held selbst tritt erst in der 5. Rhapsodie auf.

Und ich dachte an die Menschenszenen, die ich letzthin aufnahm. Es sind Momentaufnahmen „mittendrin“. Ich habe keine Ahnung, was vor der festgehaltenen Szene passierte, noch weiß ich, wie sie weitergeht. Und doch gehört sie zu einer Geschichte. Ich kann versuchen, mich in die dargestellten Personen zu versetzen, kann ihnen eine Geschichte andichten. Eine Geschichte, viele Geschichten.

Die tiefe Schublade war gestopft voll mit Fotos. Sie griff hinein, händeweise schaufelte sie sie in den schwarzen Müllsack. Weg damit. Mutter mit Kind, Mutter mit Freundinnen, Mutter mit ihrer Mutter, der Oma, Mutter mit Onkel Peter, mit Cousine Elfi, Mutter. Ein Foto glitt zu Boden. An den Rändern beschnitten. Eine dunkle Erinnerung fiel sie an.  Mutter mit dem Rucksack, in strammer Haltung.  Und sie selbst, bockig, keinen Schritt würde sie weitergehen.  Papa sollte sie abholen. Papa war lieb. Warum kam er nicht und holte sie weg von dieser Frau. Er kam nicht, nie. Die Frau würde sie am Arm hochzerren, und soviel sie sich auch schreiend und um sich strampelnd wehrte, sie würde sie nach Haus schleppen und dort durchprügeln. Vor den Leuten tat sie das nicht. Die Leute waren ihr wichtig. „Der Vater fehlt“, würden sie sagen. Duchprügeln war offenbar Vatergeschäft, dafür waren Väter zuständig. Nicht ihrer, nicht ihr Vater, der nicht. Der würde sie beschützen vor dieser Frau, würde ihr ins Gesicht schlagen, direkt mit der Faust, wenn sie es wagte, die Hand gegen das Kind zu erheben. Papa war lieb. Aber er kam nicht. Und jetzt war diese Frau tot. Die Mutter. Zänkisch bis zuletzt. Das Pflegepersonal war nicht zu beneiden gewesen. 

Effi fühlte ihren Magen. …..

Uff! Die Geschichte, die sich aus diesem Mitten-Drin-Foto entwickeln will, ist unangenehm, voll Härte, Hass und Schmerz, voll Liebes-Entbehrung und Missbrauch. Ich mag sie nicht weiterspinnen. Aber ich merke: es funktioniert. Bilder werden in mir wach, Erinnerungen an Menschen, die ich kannte, mit denen ich fühlte, die mir ihre Geschichten erzählten. Aus vielen solchen Quellen würden sich die Charaktere der „Helden“ speisen, Charaktere ganz andere als meiner, denn ich wurde nie geschlagen und schlug nie jemanden. Und doch würde auch meine Biographie Stoff liefern, um einem Menschen namens Effi Realität zu geben. Immer, in jeder Fiktion, steckt auch ein Stück Biographie.

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Antworten zu Schreiben und fotografieren: „Angefangen wird mittendrin“

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Zu dem Bild könnte es passen, irgendwie. Doch wie kann ein Vater für das Kind „lieb“ sein, wenn er der Mutter ins Gesicht schlägt, mit der Faust? Grausig.

    Gefällt 1 Person

  2. Ulli schreibt:

    Der Text geht unter die Haut, er tut weh!
    ich bin froh, dass du die Geschichte erstens nicht weitergeschrieben hast und dass du schreibst, dass es nicht deine Geschichte ist, was ich mir auch nicht vorstellen konnte.
    So, wie du die Geschichte in der Luft hast hängen lassen, spinnt sie sich weiter – deswegen bin ich froh, nicht weil ich Realitäten ausweichen will.
    Liebe Grüße zur guten Nacht,
    Ulli

    Gefällt 2 Personen

    • gkazakou schreibt:

      Danke, Ulli. Es ist schon merkwürdig,, wie mir eine so harte Geschichte aus einem unschuldigen Bildchen entsprang. Es kamen Erinnerungen an Menschen hoch, die in mir liegen wie Steine. Besonders lebhaft ein Mädchen, damals acht, und ich wohnte dort als Studentin in Berlin drei Monate in Untermiete. Grausam. Was aus diesem Kind wohl geworden ist? Selbst Mutter und Großmutter? Nun, ich werde diese Fragen wohl wieder absinken lassen auf den Grund und nicht mehr dran rühren.

      Gefällt 1 Person

  3. www.wortbehagen.de.index.php schreibt:

    Was für eine Geschichte, liebe Gerda. Der Papa war lieb. Er schlug nicht… aber die Mutter… Dieses Durchprügeln entsetzt mich und ich leide mit der Kleinen.

    Gefällt 1 Person

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