112 Stufen, 32: Drohung (Goethe: Erlkönig, Heideröslein)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

„Der Zorn Gottes wird dich treffen, wenn du nicht ….“ sprach der Hohepriester

Zum Wort „Drohung“ fällt mir spontan der schreckliche Satz des Erlkönigs ein:

„Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“

Es ist die kürzeste mir bekannte Formel für das, was auf allen Ebenen der Macht, die über Gewaltmittel verfügt, passiert: der Mächtigere zwingt dem weniger Mächtigen seinen Willen auf, egal ob es sich um ein Imperium, Nachbarland, einen Arbeitgeber, Mafiosi, Ehemann, eine Mutter, ein Schulkind…handelt. Finden sie einen Schwächeren, und er hat etwas, was ihnen gefällt (was sie „begehren“),  werden sie versucht sein, ihn ihrem Willen zu unterwerfen, notfalls mit brutaler Gewalt.

Schulkind: Gib mir dein Handy! – Nein, das ist meins! – …..

Weißer in Afrika: „Gib mir deine Bodenschätze, ich sags dir im Guten. Ich bezahl auch!“  – „Nein! Hau ab!“ – „Ich nehm sie mir sowieso, und du wirst in den Minen schuften, du Kaffer!“ ….

USrael in Gaza: „Gib mir dein Land, es gefällt mir, und Gott hat es für mich vorgesehen!“ – „Nein, was fällt dir ein!“ – „Ich mach eine Riviera draus, da kannst du viel Geld verdienen“ -„Vielen Dank, aber ich habe hier schon meine Leute wohnen. Wo sollen die hin?“ – „Du willst nicht? Wer nicht hören will, muss fühlen.“   ….

Wer droht, ohne die Machtmittel zu haben, seinen Willen durchzusetzen, ist freilich eine lächerliche Figur „Ich werd es dir zeigen!“ – „Hahaha, du Dickwanst! Komm her, versuchs!“

Die „Überzeugungsarbeit“ des Erlkönigs ist mehrschichtig, und auch in der Wirklichkeit spielen sich solche Dialoge meist in Phasen ab.

Ehemann: „Komm. Liebling, ab ins Bett! -„Nein, nicht jetzt“ -„Hab dich nicht so. Liebst du mich nicht mehr?“ – „Doch, aber ich mag jetzt nicht“ – „Ich aber mag jetzt, komm gefälligst!“ – „Nein, lass mich in Ruh“ – „Wenn du nicht sofort freiwillig kommst, wirst du es bereuen“ – „Du kannst mich mal“ – „Ich werds dir zeigen“….

USkraine: „Mir gefallen deine Bodenschätze! ich helfe dir, sie abzubauen.“ – „Nein danke! Ich mach das lieber selbst.“ – „Ich bezahle dir auch deine Waffen, damit du meinen Krieg führen kannst.“ – „?“ – „Wenn du sie mir nicht gibst, überlasse ich dich deinen Feinden“. – „Ich habe noch andere Freunde, die werden mir helfen“ – „Dass ich nicht lache! Deine Freunde haben Angst vor mir. Also gib schon her, zwing mich nicht, härtere Mittel zu verwenden, um dich zur Raison zu bringen.“ etc pp

Erlkönig tritt zunächst als Verführer mit hübschen Versprechen an den Knaben heran:

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir…“ 

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön …“

Erst als die Verführung nichts fruchtet, geht er in die offene Drohung über:

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“

Das Schicksal des Kindes ist besiegelt, so sehr es auch den Vater um Hilfe anfleht und so sehr der Vater es auch zu schützen versucht.

Der Erlkönig

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ –

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ –

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ –
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Goethe hat dies Thema immer mal wieder, zB auch im äußerst populären „Heideröslein“ aufgegriffen. Tut mir leid, ihr Frauen und Mägdelein! Wehrt euch nur! Es wird euch nichts nützen.

Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sahs mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich wills nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Meditation über eine abgeschnittene Rose (drei Kugelschreiber-Zeichnungen)

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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4 Responses to 112 Stufen, 32: Drohung (Goethe: Erlkönig, Heideröslein)

  1. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Die drei Rosenzeichnungen finde ich ganz toll !

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  2. Bei dem Schnipselbild fiel mir spontan eine andere, himmlischere Drohung (auch der alte Mann mit Bart arbeitet anscheinend nach der Methode…) ein. Das Ding von oben als Gewitterwolke interpretiert: Wilhelm Buschs:
    Der heilige Antonius von Padua. – Sein Begleiter wurde bereits vom Blitz getroffen,
    „Und wieder donnert die erste Stimme: „Töte! Töte!“ „Ja, töte, töte! Sie leid’s halt nit!“ So ruft voll Grimme die zweite Stimme.
    Antonius aber geht wie abwesend und betend seines Weges.
    Alte Lehre: Die Auserwählten triffts halt nicht. Und die es trifft, die waren eben nicht erwählt, Pech, wer sagte was von Gerechtigkeit!

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  3. Ja, wo steckt bloß die Gerechtigkeit?

    Sind es nur zufällig die beiden bekanntesten Goetheverse???

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  4. Deine 3 Federzeichnungen finde ich sehr schön und ausdrucksvoll.

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