Nachreichen möchte ich zwei aus Papiertüte-Fetzen gelegte Bildchen, die ich gestern vergaß zu zeigen. Sie illustrieren das, was man das „Numinose“ nennt: Schauer und Faszination vor dem Übermächtigen, Göttlichen (siehe Beispiele unten)
„Anbetung“ nenne ich das erste: Zwei Personen haben eine Figur gebaut, vor der sie demütig niederknien, das Haupt gesenkt, das Herz voller Anbetung und Frömmigkeit. Die Kunst ist voll von solchen Darstellungen. Wen beten sie an – wenn nicht sich selbst in einer höheren Form, als Herrscher und Gekrönten?

„Vor dem Mysterium“ nenne ich das zweite Bild: Ein Menschlein steht vor den wunderbaren Erscheinungen der Natur und Geisterwelt, versucht mit einem ihrer Vertreter ins Gespräch zu kommen, bittet um Einlass. Wird ihm Zugang gewährt? Vielleicht, wenn er die rechte Demut und Frömmigkeit aufbringt. Im Hintergrund wartet schweigend ein Baum und horcht, ein anderer hat sich steil aufgerichtet und abgewandt.

Das Papier, aus dem ich diese Bildchen legte, ist aus einem lebendigen Baum gemacht. Die Elektronik, die mir die Versendung gestattet, ist nach Vernichtung der unbetretenen Wälder möglich worden. Das Numinose ist Teil der Warenwelt geworden.
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*Das Numinose (DWDS, Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute, Quelle)
das Göttliche als unbegreifliche, zugleich Vertrauen und Schauer erweckende Macht
Beispiele:
[Religionspsychologe Rudolf] Otto hatte das Heilige als das »Numinose« bestimmt, abgeleitet vom lateinischen Wort für göttliche Wesen. Dieses Numinose ist vor allem durch das Moment des »tremendum« bestimmt, des Schauervollen, dann durch das Moment der »majestas«, des Übermächtigen, und schliesslich durch das Moment des »fascinans«, des Anziehenden. Keine Frage, dass sich das Heilige in einer profanen Welt in unterschiedlichen säkularisierten Formen erhalten kann: vom ästhetisch Erhabenen über die Unantastbarkeit der Menschenwürde bis zur Anbetung des Silicon Valley. Gerade Letzteres könnte tatsächlich als ein paradigmatisch heiliger Ort der Gegenwart beschrieben werden, auf den alle klassischen Bestimmungsstücke des Numinosen zutreffen: Macht, Faszination und Erschrecken. [Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2016]
»Das iPhone X ist ein wegweisendes und magisches Produkt, vollgepackt mit unglaublichen neuen Features.« Das ist nicht sehr aussagekräftig, so beginnt bei Apple jede Pressemitteilung. Man muss sich bei der Exegese dieser Texte von den einzelnen Adjektiven lösen, entscheidend ist das Clustering, die Reihung von »unglaublich«, »magisch« und »wunderschön«; es ist dieser Zusammenklang, mit dem Apple die Innovation zelebriert und das Numinose benennt, als zugleich Vertrauen und Schauer erweckende Macht. [Neue Zürcher Zeitung, 12.09.2017]
Das Wilde Gjoad ist ein uralter Mythos, der aus der überreichen Brauch‑ und Sagenwelt des Salzburger Umlandes herausragt. Die Trommelschläge, die Urschreie und das schreckliche Heulen dieses zwölfköpfigen Dämonenheeres lassen erahnen, welche Ängste die stark vom Aberglauben geprägten Menschen der alten Agrargesellschaft gequält haben. Damals, als die Natur voller Geister und Spukgestalten zu sein schien, erst recht in der finsteren Jahreszeit. In dem noch bäuerlich geprägten Landstrich zwischen Salzburg und dem Untersberg ist diese Aura des Numinosen, die das Landleben einst durchdrungen hat, nach wie vor stark zu spüren. [Süddeutsche Zeitung, 22.12.2016]
[…] der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Jean Clair hat sich mit Alexander von Humboldt den[…] letzten Enzyklopädisten zum Schutzheiligen und Stichwortgeber geholt für eine Ausstellungsexpedition, die hinter Kunst und Wissenschaft noch einmal jenes Sublime oder Numinose sichtbar zu machen sucht, das dem vergangenen 20. Jahrhundert so glatt abhanden gekommen ist. [Die Zeit, 13.04.2000]
Die [katholische] Messe kommt dem Verlangen nach dem Numinosen in hohem Maße entgegen; ihre religiöse Wirkung läßt sich von ihren dogmatischen Voraussetzungen nicht trennen. [Sucker, W.: Katholizismus. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1959], S. 25101]
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Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Ein Begriff der Aussensicht. Im Buddhismus, im Sufitum, in der christlichen Mystik wird er ergänzt durch die Versenkung und den Begriff des Einswerdens.
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