Ich sitze auf dem Balkon, das Licht des Tages weicht bereits, und meine Augen sind müde vom Lesen. Ich schließe sie und lausche: Eine Amsel singt ihr Abendlied, aus der Küche tönt die Stimme eines Nachrichtensprechers, ein Hund bellt empört in der Ferne, ein anderer kläfft ihm Antwort, ein Motor heult auf und entfernt sich. Mit geschlossenen Augen nehme ich einen Schluck Rotwein und spüre dem herben Geschmack auf der Zunge und im Gaumen nach.
„Für Platon“, so hatte ich grad gelesen, „war die Unwandelbarkeit das Entscheidende. Ihm lag daran, die Aufmerksamkeit von den veränderlichen (und damit flüchtigen) Dingen oder Phänomenen wegzulenken. Platon zufolge liegen die Spuren der Wahrheit (…) dieser Welt irgendwo tief in unserem Inneren, wo sie schon vor unserer Geburt eingeschrieben wurden. Wenn wir nach ihnen suchen wollten, würde es reichen, uns unserem eigenen Inneren zuzuwenden. Die Suche nach der Wahrheit in der äußeren Welt lenkt uns nur ab, denn sie führt uns auf einen Weg, bei dem wir den Schatten folgen und sie untersuchen (…). Es ist zwar möglich, die realen Dinge zu erkennen – aber nicht mit unseren Augen oder unseren anderen Sinnen (die sich oft täuschen lassen), sondern durch die Vernunft.“ (Tomas Sedlacek, Die Ökonomie von Gut und Böse“, Hanser, S. 139)
Das, was als Töne an mein Ohr dringt, ist also nur ein Schatten des Wirklichen? Und was wäre das Wirkliche? Die Schallwellen der bewegten Luft, die auf das Trommelfell meines Ohrs treffen und auf mir verborgenen Wegen in meinem Hirn zu Wahrnehmungen werden, aus denen ich, Geist und Vernunft, schließe, dass irgendwo da oben ein Schwarzrock sein Abendlied schmettert und ein wüster Köter die Nacht anbellt, während ein junger Mann sein Motorrad aufheulen lässt und davonrast? Wenn ich das nicht nur unterstelle, während in Wirklichkeit …. was geschieht? Und wo? Im Inneren? Nach Maßgabe welcher Vernunft?
300 Wörter
Dies ist mein zweiter Beitrag zu Christianes abc-etüden mit einer Wortspende von Cynthia (Querfühlerin). Die gespendeten Wörter sind Geist – herb – unterstellen. Das obere Bild habe ich aus Schnipseln gelegt, die Myriade mir spendete, das untere habe ich aus diversen Restbeständen zusammengefügt.

Ich habe deine Etüde jetzt dreimal gelesen, mit ein bisschen Abstand dazwischen. Ich verstehe deine Schlussfolgerung nicht, weiß aber nicht, ob ich nicht einfach auf dem Schlauch stehe, und bin ein bisschen unzufrieden mit mir 😒
Danke für die philosophische Etüde!
Morgenkaffeegrüße 🌤️🌳🎶☕🍪
LikeLike
ich hingegen verstehe nicht, wo dein Verständnisproblem liegt, liebe Christiane? Ich schlussfolgere ja nicht, sondern stelle Fragen, implizit und explizit: ist wirklich, was ich über meine Sinnesorgane wahrnehme? Oder das, was ich mir aufgrund meiner „Vernunft“ zusammenreime? Worin besteht meine „Vernunft“? In neuralen Vorgängen? In der Struktur und Inhaltlichkeit der von mir gesprochenen Sprache? In ewigen Ideen? Wie also findet der Abgleich zwischen Sinneswahrnehmung und dem erdachten Konstrukt („konstruierte Wirklichkeit“) bzw. der Welt der Ideen statt? Was ist täuschungsfreier: die Wahrnehmung oder das Denken? Gibt es hinter dem Wahrnehmen und Denken eine „eigentliche, ewige“ Wirklichkeit, wie Plato anzunehmen scheint, und wie wäre die zu erkennen?
LikeGefällt 2 Personen
Ich danke dir. Ich HABE auf dem Schlauch gestanden und bin wohl irgendwie einer merkwürdigen Annahme gefolgt. Alles gut. 👍
LikeLike
Das Gefüge der „Wirklichkeit“ ist im unteren Legebild sehr eindrucksvoll dargestellt!
LikeGefällt 2 Personen
Gruß an meine Schnipsel und an Plato !
LikeLike
Dankeschön!
LikeGefällt 1 Person
Wirklichkeit ist m.E. nicht ohne Wirkung zu haben. Dadurch unterscheidet sich der Begriff von der „bloßen“ Realität. (Aber, während ich das schreibe, erhebt sich in mir ein ganzer Chor von Einwänden. Auf die gehe ich jetzt mal nicht ein. 😉 )
LikeLike
Danke ! Der Trick mit der Ersetzung des deutschen durch ein lateinisches oder griechischen Worts funktioniert hier genauso wie bei psychisch, mental, kognitiv. Das “wissenschaftliche” Wort ist steril und frei von Konnotationen, man kann es neu definieren, ohne dass einem der gesamte Echoraum der Geistergeschichte entgegentönt. 😉
LikeLike
Ich frage mich: wenn ich eine Arbeit verrichte, meinetwegen etwas schnitze: wer hat dann real die Arbeit gemacht: meine Vorstellungskraft oder doch nur das Schnitzmesser?
LikeLike
🙂 und deine Muskelkraft….
LikeGefällt 1 Person
Die innere Wahrheit müßte das sein, was uns mitgegeben ist und seit Menschengedenken tief in uns sitzt. Eigentlich könnte es dann doch das sein, was wir als Bauchgefühl oder aber auch Instinkt bezeichnen???
Ich glaube, daß Platon die *einfache* Wahrheit suchte, die, die von den realen Einflüssen so oft abweicht, oder?
LikeLike
den Instinkt meinte er sicher nicht, wenn er von der Welt der Ideen sprach, der er eine realere Existenz nachsagte als dem, was im Materiellen erfahrbar ist. Die Ideen seien uns eingeboren.
LikeGefällt 1 Person