Impulswerkstatt: Bild 2, Was – warum – wie? (Transparenz 10)

Meine Reaktion auf dein zweites Bild, liebe Myriade, durchlief drei Stadien. Das fiel mir auf, als ich beim dritten Stadium angekommen war. Und ich finde diese Selbstbeobachtung im Moment gerade interessanter als das Bild selbst. Oder genauer: ich konnte das Bild eigentlich erst im dritten Stadium als Bild wahrnehmen und schätzen.

Das klingt nun komplizierter als es ist.

Mein erster Gedanke vor dem Bild war: WAS IST DAS? Ein Glas, eine durchsichtige Flüssigkeit, darin schwimmen zwei dunkle runde Früchte, vielleicht Wacholderbeeren, außerdem ist es hübsch mit einer Zitronenscheibe garniert. Es sieht erfrischend und  sommerlich aus. Auf meiner Zunge spürte ich einen mild-säuerlichen Geschmack. Da ich das Getränk nicht kenne, konnte ich mit dem WAS IST DAS? nicht weiterkommen.

Beim zweiten Betrachten des Bildes kamen mir andere Gedanken. WARUM schwimmt  die Zitronenschale oben, während die runde Frucht hinuntersinkt? Hatte das womöglich mit dem archimedischen Prinzip zu tun, das mir irgendwo aus dem hintersten Hirnkasten Zeichen funkte: Heureka rief der „alte Grieche“, in der Badewanne liegend, als er es fand (heureka, ευρηκα bedeutet bis heute: ich habs gefunden!).

Wikipedia klärt mich auf: Archimedes formulierte als erster den Zusammenhang von Auftrieb und Verdrängung, und zwar als 16. Proposition in seinem Werk Über die schwimmenden Körper ….

„Der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium ist genauso groß wie die Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums.“

Genau! Doch eine Antwort auf meine Warum-Frage hatte ich damit nicht. Ich sah auch ein, dass diese Frage, sofern es um dieses Bild ging, vermutlich nebensächlich oder gänzlich überflüssig war.

Also schritt ich zur Frage des WIE weiter, und da begann das Bild in vielen Tönen zu mir zu sprechen.  Ich sah die kreisförmigen Linien, zu denen sich die geraden des Tisches krümmen, wenn sie sich im Rund des gläsernen Grundes brechen, ich sah die fein genoppte Schale der Zitrone, die sich stark verbreitert noch einmal am Glasrand abbildet, ich sah die Schlieren und glänzenden Lichter im Glas und im Wasser, sah auch die Lichter und Schatten der Frucht, durch die sie ihre runde Form auf der zweidimensionalen Fläche behauptet … kurzum, ich sah das bezaubernde Zusammenspiel von Formen und Farben, das sich zu einem schönen Bild fügt.

Der erste Zugang ist „lebenspraktisch“ – und den meisten Menschen genügt er. Mir genügt er meistens auch. Uns reicht meist festzustellen, WAS IST.

Der zweite Zugang ist „wissenschaftlich“ – und er wird bedeutsam, wenn man gerne wissen möchte, WARUM sich etwas in gegebener Weise verhält. Da begibt man sich auf eine Ebene, wo es um Gesetzmäßigkeiten geht. Egal, ob Archimedes in der Badewanne oder die runde Frucht im Glas – alle gehorchen demselben Gesetz. Das ist natürlich in hohem Maße abstrakt und lebensunpraktisch. Doch wenn man diese Gesetzmäßigkeiten gezielt anwendet, kann man sich ein wenig über die Naturgegebenheiten erheben und beginnen, sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen umzugestalten. Man baut dann zB die Schiffe nicht mehr flach, sondern fügt einen schweren Kiel an, der sie im Wasser stabilisiert.

Der dritte Zugang ist  „phänomenologisch“ und zutiefst künstlerisch. Er steigert die Wahrnehmung und verzichtet auf Erklärungen der „WEIL“-Form. Er sagt einfach: So ist es. 

Gestern zitierte ich „Gedanken“ von August Macke:

„Wissenschaft fragt, warum etwas so ist. Kunst fragt nie warum, sie sagt, es ist so oder so, oder hört euch doch nur an, wie es ist. Und wie ist es? Ist es schön, ist es lieblich, ist es tragisch? Ist die Welt etwa nur schön, lieblich, tragisch? Nein, sie ist lebendig.“.

Schauen der Pflanzen und Tiere ist: ihr Geheimnis fühlen. Hören des Donners ist: sein Geheimnis fühlen. Die Sprache der Formen verstehen heißt : dem Geheimnis näher zu sein, leben.“

Ich hatte den Text mit „Über das Leichte und das Schwere“ getitelt. Merkwürdig, wie dies zusammenpasst mit der Zitronenscheibe, der Wachholderbeere und dem Nachdenken über das WAS, WARUM und WIE.

Nun aber möchte ich doch noch meinen diesjährigen Jahres-Aspekt aufgreifen, wer weiß, wie er sich ins Muster fügt. Es ist der Aspekt der Transparenz von Glas und Wasser und wie das Licht, wenn es hindurchfällt, die wunderlichsten Formen malt. 

Mir reicht es heute, sie nur zu betrachten, nur nach dem WIE zu fragen und auf alle WAS- und WARUM-Fragen zu verzichten.

Unendlich vielfältig scheint mir der Formenreichtum zu sein, den das lebendige Licht erzeugt, wenn es sich mit den einfachsten Dingen befasst. 

Von den „Taten und Leiden des Lichts“ sprach Goethe, der große Phänomenologe, in Bezug auf die Farben. (Verl. die Ausstellung gleichen Namens zu Goethes Farbenlehre, Weimar 2010, Besprechung in der FAZ).  Doch meine ich, man könnte diesen Ausdruck ebenso gut anwenden auf das, was das Licht angesichts von transparenten, halbtransparenten oder opaken Dingen tut und erleidet.

Dies ist ein Beitrag zu Myriades Impulswerkstatt.

 

 

 

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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15 Responses to Impulswerkstatt: Bild 2, Was – warum – wie? (Transparenz 10)

  1. Avatar von Die Rückkehr der Liebesgöttin lachmitmaren sagt:

    Ich persönlich liebe ja die Frage nach dem „warum?“ … 😉💖

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    • Avatar von wildgans wildgans sagt:

      Ja, dazu immer die Idee, dass man neugierig bleibt!

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Die alte Kinderfrage, ja. Doch kommt sie oft,ohne dass zuvor überhaupt ausreichend wahrgenommen wird, worauf sich die Frage richtet. Sie setzt voraus, dass man bereits wüsste, was man erklärt haben möchte.

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      • Avatar von Die Rückkehr der Liebesgöttin lachmitmaren sagt:

        Ich würde eher sagen, die Frage aller Forschenden.

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      • „ohne dass zuvor überhaupt ausreichend wahrgenommen wird, worauf sich die Frage richtet“: Etwa bei der Erforschung des Bewusstseins.

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Ja, Gerhard, solche „Gegenstände“ wie das Bewusstsein oder die Seele erklären zu wollen, ohne sich klar darüber zu sein, was es überhaupt ist, führt zu leeren Debatten. Ich meinte aber noch viel einfachere Sachen. Nehmen wir als Beispiel den heutigen Eintrag von Joachim: https://hjschlichting.wordpress.com/2024/01/24/interferenzfarben-im-hotelzimmer/. Er zeigt ein Foto, wir fragen: was ist das? und er antwortet: Interferenzfarben. Viele sind dann schon zufrieden. Er aber macht sich die Mühe, uns auf eine mögliche Warum-Frage zu antworten: wie kommt es dazu, dass diese Farben entstehen? Wir lesen seine Antworten und vielleicht verstehen wir, vielleicht auch nicht, was Interferenzfarben sind und wie sie zustandekommen. Vielleicht sind wir aufmerksame Schüler und können reproduzieren, wie sie in diesem Fall (Kleber, Glasscheibe) zustandekommen. Wir können lernen. Aber auf die einfache Frage, wie denn nun diese Interferenzfarben angeordnet sind: können wir darauf antworten? Ist das volle Spektrum zu sehen? Wie oft? Liegt das Rot innen oder außen? Warum? Haben wir das Phänomen sorgfältig genug wahrgenommen, um es beschreiben zu können? Sind wir in der Lage, aufgrund dieser Wahrnehmungen Fragen zu formulieren? Es mag sein, dass manche es können, und auch tun. Die meisten aber nicht. Dann bleiben wir Schüler mit Kenntnissen, aber ohne eigenes Denken und Forschen. Wir müssen uns wieder und wieder belehren lassen, wie Kinder.

        Probier es mal aus. Frag dich und andere, wie die Regenbogenfarben angeordnet sind, von Innen nach außen, und wie sie im doppelten Regenbogen angeordnet sind undwie in diesen Interferenzfarben. Wir alle haben dies Phänomen schon gesehen, aber kaum einer kann solche Fragen beantworten. Wenn du dieselben Leute fragst: wie kommt ein Regenbogen zustande? so werden sie eine einigermaßen richtige Erklärung zustandebringen, weil sie im Unterricht aufgepasst haben. Aber sie wissen eigentlich nichts.

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      • Phänomene bis auf den Grund zu verstehen kann niemand, auch der emsigste Beobachter, Nachdenker und Schürfer. Da es keinen endgültigen Grund gibt!
        Allein: Wieso entstehen im menschlichen Bewusstsein „Farben“? Wieso hat die Evolution diese Lösung für Anzeige von Licht gewählt?
        1000 Fragen schliessen sich an. Wenn sich jemand aktiv und darum scheint es dir ja zu gehen, kümmert, dann kennt er zumindest einen grösseren Teil der Fragen – und so manche Zwischenantwort.

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      • Avatar von wildgans wildgans sagt:

        Danke ,Gerda!
        Wir wissen eigentlich nichts, das wird auch mir immer deutlicher…

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      • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

        Nun ja. Aber wir schlagen uns durch. *Dein Kommi war im Spam 😦

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      • Avatar von Die Rückkehr der Liebesgöttin lachmitmaren sagt:

        Oh ja, neugierig sein (im Sinne von Wissen wollen, was jeweils „dahinter“ ist), ist eine meiner Grundeigenschaften … .😊🤗

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    • Das Warum erschliesst sich meist auch nach vieler Schürfleistung nicht. Schnelle Funde/Erklärungen gibt es eh kaum.

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      • Avatar von Die Rückkehr der Liebesgöttin lachmitmaren sagt:

        Ja, schnelle Erklärungen sind selten die wirklich zutreffenden. Erfassen meist allenfalls einen „Zipfel“ Erkenntnis … . Deshalb sind die Erklärungen, die schnell kommen, für mich auch immer nur ein erster Schritt, um dann weiterzuforschen.

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  2. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Was für wunderschöne Lichtbilder du da zeigst!
    Ich finde es aber ganz und gar nicht lebensunpraktisch zu wissen, dass im Universum alles nach denselben Gesetzen funktioniert, es gelingt mir nur nicht, diese Tatsache mit Mackes Verwendung des Worts „Geheimnis“ unter einen Hut zu bringen.
    Dem rein ästhetischen Betrachten des Lichts ohne wie, warum und wieso kann ich sehr viel abgewinnen. Das ist für mich die „direkte Wahrnehmung“, ein Grundpfeiler buddhistischer Philosophie und eine Haltung gegenüber Sinneswahrnehmungen, die große Freude bringt. Gar nicht einverstanden wiederum bin ich mit der Wortwahl, dass das „lebendige“ Licht etwas „erleidet“.
    Ist es nicht wunderbar, dass wir uns im Bereich der Wahrnehmung der Welt und der Kunst treffen, obwohl unsere Interpretationen und Weltanschauungen sehr verschieden sind!
    Herzlichen Dank für diesen sehr interessanten und schön bebilderten Beitrag!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Liebe Myriade, trauriger Weise war auch dieser Kommentar im Spam. Nun aber habe ich ihn hervorgezogen. Ich stimme dir zu, dass es schön ist, dass wir uns im Netz getroffen haben und weiterhin treffen, um uns gegenseitig zu lesen, auch vieles vom anderen anregend und bereichernd zu finden, manches aber auch falsch, irritierend, voreingenommen…. Beides ist wichtig, um sich selbst besser kennenzulernen. Und auch den anderen, der anders tickt, zu schätzen.

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