Der 12-Tage-Rhythmus der Zwischenbilanzen ließ sich diesmal nicht einhalten. Fast ein Monat ist seit der letzten am 24.4. vergangen.
In der ersten Zwischenbilanz (12.1.) findest du ein Personenverzeichnis und eine Revue, „wie alles begann“: Die „blinde Poetin“ (Domna) ist der spiritus rector dieses „Welttheaters“. Mithilfe von Eichendorffs „Wünschelrute“ (Zauberwort) findet sie das Leitmotiv des Stücks: „Geben und Nehmen im Ausgleich“.
Die Handlung des Welttheaters beleuchtet dieses zentralen Thema in jeder Szene anders. Die auftretenden Figuren stehen in unterschiedlicher Weise in diesem Spannungsfeld. Etwas mehr über ihre Schicksale und Charaktere erfuhren wir nun durch ihre eigenen Erzählungen, nachdem Hirt Fotis sich als Gegenleistung fürs Essen Geschichten erbat.
Seit ihr nun satt? Dann möcht ich fragen
woher ihr kommt und wer ihr seid
Ich mag Geschichten und auch Sagen,
Erzählt sie mir, ich bin bereit.
Die folgenden Szenen enthalten Märchen, Mythen, Lebensgeschichten, Historie, sowie Lyrik. Angesprochen werden Fragen nach dem Wesen des Menschseins, nach dem Verhältnis zum Vater und zur Mutter (Väterlichkeit-Mütterlichkeit), zu Schuld und Schicksal, zu anonymen Kräften und Selbstverantwortlichkeit, zu seelischer Blindheit und Klarsicht des Herzens.
Clara beginnt mit dem Märchen „Der Hirte“, Trud kennt den Mythos von Ödipus, Wilhelm erzählt seine eigene Lebensgeschichte, Abud berichtet vom Mali-König Mansa Musa, Hawi vermischt das Märchen „Der Zauberkrug“ mit dem eigenen Leben, Jenny gibt einen kurzen Abriss ihrer schlimmen Kindheit, Abud kommt auf seinen Vater und das Drama seiner Flucht zu sprechen. Domna rezitiert Gedichte, die das Geschehen interpretieren und vertiefen. Zum Schluss schlafen die Kinder Clara und Hawi im Schoß von Danai, die anderen rüsten sich zum Schlaf in der Wohnstube. Abud und Jenny können bei Fotis bleiben und ihm bei seiner Arbeit helfen.
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Hier nun eine etwas ausführlichere Zusammenfassung:
Das Kind Clara beginnt mit einem Märchen von einem Hirtenkind, das zum König wird. Jenny macht sich darüber lustig, sie hat unmittelbarere Gelüste (Brathuhn). Ihr „Brathuhn-Wunsch“ ist eine Herausforderung der „veganen“ Clara. (Die Beziehung zwischen Jenny und Clara bleibt ungeklärt. Domna vermutet, Clara sei Jennys Kind).
Jenny und Abud liefern sich einen verbalen Schlagabtausch. Domna verlässt daruafhin den Raum. Danai tadelt die beiden wegen ihres „Übermuts“, der Fotis‘ Gastlichkeit entwerte. Beide entschuldigen sich. Trud erbietet sich, als nächste zu erzählen. Sie wählt den Mythos des Ödipus, der
schon seit alters her erforscht das Fragen.
Ödipus löste die Rätselfrage der Sphinx (die richtige Antwort ist: der Mensch), aber die tiefere Frage: Was ist der Mensch? wusste er nicht zu beantworten.
Jedoch! „Was ist der Mensch?“ das ist die größre Frage
die bis auf heute schwer die Menschheit quält.
Es ist die große Frage, die ich in mir trage
auf die mir immer noch die Antwort fehlt.
Ödipus stach sich die Augen aus, weil er das Offensichtliche nicht sah.
Für unsere Augen ist so manches unsichtbar.
Gut sieht man nur mit einem offnen Herzen
und was verworren war, das wird dann klar.
Wilhelm ergreift als nächstes das Wort, indem er an das Ödipus-Schicksal anknüpft.
Der Typ hat sich die Augen ausgestochen
damit er besser sehen kann?
Vielleicht hab ich mir ja das Bein gebrochen
damit ich ankomm irgendwann?
Dahinter steht der Gedanke, dass sein Beinbruch eine Aufforderung seines Unbewussten ist, nicht mehr vor sich selbst wegzulaufen. Denn das tat er, wie er nun einsieht.
Bevor er erzählt, geht Danai zu Domna hinaus, die das Gedicht „Wen es trifft“ von Hilde Domin rezitiert. Darin wird die Frage nach der Gerechtigkeit des Schicksals gestellt und verneint. Weder das Unglück noch das Glück sei eine Folge eigenen Handelns, sondern Akte „einer unbekannten allmächtigen Instanz“. Angesichts dieses Ausgesetztseins bleibe nur, die eigene Hand zu hüten, dass sie nichts Übles anrichtet, so dass du zuletzt sagen kannst:
Du warst ein liebendes
Glied
zwischen mir und der Welt.
Danai legt ein gutes Wort für Jenny und Abud ein, deren Leben bisher extrem bedrückt gewesen sei. Liebevolle Zuwendung aber könne auch ihre Verhärtungen lösen.
Des Menschen Herz wird immer zu neuem Leben erregt
wird es in die Sonne von Liebe und Hoffnung gelegt.
Nun erzählt Wilhelm, zuerst zögernd, dann tief bewegt, von seinem strengen Richter-Vater, seiner bedrückten Kindheit, seiner Sehnsucht nach Wärme und Natur, seinem Werdegang als erfolgreicher Anwalt reicher Leute, vom Tod seines Vaters im Verlauf eines Aufruhrs, seiner Flucht. Auf Truds Nachfrage hin räumt er ein, dass er heimlich die Aufrührer bezahlte, also indirekt für den Tod des Vaters, den er sich wünschte, verantwortlich ist (Ödipus) und sich deshalb in die Einsamkeit zurückgezogen hatte.
Wenn ich allein war hier in der Natur
da sprach ich oft mit ihm, damit er mal erfuhr
was er mir angetan. Und wie ich ihn gehasst.
Doch jetzt nicht mehr, denn die Erinnerung verblasst.
Domna spricht mit Wilhelm im Wechselgesang das Lied des Harfners (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre), in dem es erneut um die Schuld des Unschuldigen geht („ihr lasst den Armen schuldig werden„). Domna deutet an, dass auch sie blind gewesen sei, als sie noch sah. Doch nun sei ein Ende auch seines Leidens abzusehen:
Nun kannst du abtun von der müden Seele
die alte Schuld, auf dass sie dich nicht quäle
und dich behindre auf dem neuen Pfad
den du nun hast betreten grad.
Als nächstes erzählt Abud: Er greift eine Geschichte seiner Heimat Mali auf, die früher reich und berühmt war, und deren glänzendster Repräsentant Mansa Musa war, dessen Reichtum bis heute nicht übertroffen wurde. Man spürt, wie sehr Abud unter der heutigen demütigenden Armut leidet. Domna rezitiert Strophen aus Hölderlins Gedicht „Frieden„, in denen ein weiteres Mal nach dem Verschulden und also nach Ursache-Wirkung-Gesetzen gefragt wird:
Wer hub es an? wer brachte den Fluch? von heut
Ists nicht und nicht von gestern, und die zuerst
Das Maß verloren, unsre Väter
Wußten es nicht, und es trieb ihr Geist sie.
…
Und unstät wehn und irren, dem Chaos gleich,
Dem gärenden Geschlechte die Wünsche noch
Umher und wild ist und verzagt und kalt von
Sorgen das Leben der Armen immer.
Nun fordert Fotis Hawi auf, etwas zu erzählen. Hawi wählt das Märchen „Der Zauberkrug“, das seine Mutter ihm gern erzählte. Wieder ist von einem Hirtenkind die Rede, das durch verschiedene Prüfungen geht und einen Zauberkrug erhält, mit dem es sich Wünsche erfüllen kann. Im Verlauf der Erzählung wandelt sich das Märchen und wird zu Hawis eigener Geschichte: dem Überfall auf sein Dorf, dem vermutlichen Tod seiner Mutter, seiner Flucht.
Die Mama schrie, zerbrecht den Krug mir nicht.
doch diese Männer lachten ihr nur ins Gesicht.
Da schrie die Mama: du musst schnell wegrennen!
und Hawi lief und sah sein Haus noch brennen.
Die Erinnerung hat ihn erschöpft, er möchte nun schlafen gehen.
Jetzt bin ich müde, möchte sehr gern schlafen.
Darf ich mich wieder legen zu den Schafen?
Fotis und Danai begleiten Hawi hinaus, Domna bringt auch Clara. Die beiden Kinder schlafen in Danais Schoß ein. Domna rezitiert die beiden Fassungen von Goethes „Wanderers Nachtlied“.
Der du vom Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest …
und
Über allen Gipfeln ist Ruh…
Nun ermuntert Domna Jenny, etwas von sich zu erzählen. In kurzem ruppigem Stil berichtet sie von ihrer elternlosen Kindheit zwischen Heimen, Gefängnis und sexueller Ausbeutung. Froh ist sie, nun diese Gruppe gefunden und fast täglich etwas zu essen zu haben. Abud stellt ihre Geschichte in Frage, sie kontert ironisch mit dem Märchen von der schlafenden Unschuld und dem wach küssenden Prinzen. Es entspinnt sich eine Debatte über Väter. Jenny hätte gern einen Vater, aber die meisten Männer seien eh zum Wegwerfen, da sei es besser, vaterlos zu bleiben.
Gefragt nach seinem Vater, erzählt nun Abud: Der Vater, sein Held und sein Vorbild, dem er nicht gerecht werden konnte, denn er konnte die Mutter nicht schützen. Das ist sein Trauma, in dem Jenny stochert: du warst feige und bist weggerannt. Fotis begreift Abuds Schmerz und lädt ihn ein, sein Gehilfe zu werden – mit Lohn und Logis. Das würde auch ihm helfen, denn er sei schon alt.
Fotis‘ Angebot ist ganz im Sinne des Gebens und Nehmens: Jeder bietet das, was er hat, im Ausgleich zu dem, was er erhält. Jenny möchte auch ins Geschäft einsteigen – als Köchin gegen Essen und Schlafen – was Fotis ihr zusagt. Fröhlich anerkennt Jenny Fotis als brauchbaren Vatertyp:
Ein Vater so wie du, der käm mir grade recht.
Mit so nem Vater wär mein Leben am Ende gar nicht schlecht.
Fotis trägt Jenny die Arbeiten für den nächsten Morgen auf, geht mit Abud zu den Ställen und überlässt den anderen Besuchern den Wohnraum zum Schlafen. Am nächsten Morgen, so seine Annahme, werden sie weiterziehen.
Damit endet der vierte Akt.
In einem Zwischenakt sehen wir Domna, die das weitere Schicksal der Gruppe durchdenkt: Weiterfliehen oder sich verwurzeln? Sie fühlt den Widerstreit. Die Spirits beruhigen sie: alles sei immer im Wandel, sie solle sich einfach dem Strom anvertrauen, anstatt zu grübeln.
Eine gute Zusammenfassung, Gerda. Was hat sich inzwischen doch alles ereignet in Deinem Welttheater. Das ist schon recht erstaunlich. Und es bewegt und verändert auch in uns etwas. Gern erfahren wir. wie es weitergeht….
Ein Tippfehler zu Beginn: Fotos fragt: “ Seid Ihr nun satt?“ „Seid“ statt „seit“.
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