Dies ist ein Beitrag zu Myriades Impulswerkstatt.
Als ich das Bild sah, liebe Myriade, dachte ich: so etwa saß auch meine Mutter da, mich in ihrem Bauch, zwei andere Kleinkinder an ihrem Rockzipfel, aus den Resten alter Kleider neue schneidernd, die Fenster abgedunkelt, während draußen der Krieg wütete. Aber es gab da einen Unterschied: diese Frau ist schwarz und die Szene spielt in Afrika.
Ich bin nie in Afrika gewesen, doch ich bin in meinen Gedanken viel mit diesem Kontinent beschäftigt (zB hier und hier). Es stellte sich sogar einmal die Frage, ob wir, anstatt nach Griechenland nach Sambia auswanderten, wo meinem Mann eine gute Position angeboten worden war. Ich wandte mich damals heftig gegen diese Perspektive: Reichte es nicht, mit dem deutschen Erbe zu leben? Musste ich mich auch noch mit dem Kolonialerbe des Weißen Mannes befassen? Wie würde ich mich als Weiße in einem Kontinent fühlen, der von Weißen verwüstet und versklavt worden ist? Nein danke! sagte ich. Und so zog ich nach Griechenland, wo mich die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und SS schon genug maltraitierten.
Ist es möglich, aus dem Gefängnis der Identifikation mit Volk, Nation, Rasse auszubrechen? Ich habe es als Jugendliche versucht, gab mich abwechselnd als Holländerin, Dänin oder Polin aus. Aber ich konnte nicht entkommen. Das wurde mir klargemacht, als ich mit 16 das erste Mal über die deutsche Grenze ins Ausland fuhr: „Das habt ihr getan“, sagte der Mann, der mich in seinem Auto mitgenommen hatte, und wies mit großer Gebärde über einen Friedhof, der mir bis an den Horizont zu reichen schien. Es war ein Franzose. Später waren es Holländer, Dänen, Belgier, Norweger, Griechen, Serben… Wohin ich kam: man zeigte mir die Verbrechen, die im „Namen des Volkes“, dem ich angehörte, an Angehörigen anderer Völker begangen worden waren. Ich musste mich damit abfinden, Deutsche zu sein.
Als ich erwachsen wurde, fand ich mich ab, und nun sage ich: Ja, ich bin weiblich, ich bin Deutsche, ich bin christlich getauft und ich bin weiß. Das ist gut, das ist schlimm, das ist wunderbar, das ist fürchterlich. Das sind meine Ausgangsbedingungen, das ist mein Erbe.
Wie aber ergeht es den jungen Männern, die aus dem „schwarzen Kontinent“ ins weiße Europa kommen? Können sie der Zuschreibung entkommen, Kinder und Enkel von Unterworfenen, Beraubten, Versklavten zu sein? Wohl kaum. Haben sie eine große Kultur, auf die sie sich berufen können, die sie tröstet? Nein, ihre alte Kultur wurde ausradiert. Schlimmer: Ihnen hallt (als Projektion) entgegen, was die Weißen an ihnen verbrochen haben: ihr seid Räuber und Vergewaltiger, ihr habt das Tierstadium noch kaum hinter euch gelassen, seid nicht richtig zum Menschen geworden, ihr vermehrt euch zu schnell, euch kann man getrost totschlagen.
Du hast solche Vorurteile nicht? Sehr schön, ich auch nicht. Aber du weißt wie ich: sie sind da, sie können jederzeit geweckt und auf die Gesamtheit der Menschen ausgedehnt werden, die der „falschen“ Rasse und Religion, dem falschen Geschlecht und der falschen Altersgruppe angehören. Und das stimmt sogar in beide Richtungen.
Meine letzte „Welttheater“-Szene leite ich damit ein, dass das Kind Clara die beiden jungen Afrikaner nach ihren Namen fragt. Nach dem Namen und dem persönlichen Werdegang zu fragen, ist der erste Schritt, um sie und uns aus dem Gefängnis der Stereotype zu befreien. Jeder ist zwar eingebettet und durchdrungen vom Schicksal seines Volkes, seiner Rasse, seines Kontinents ……, aber er ist dadurch nicht vollkommen determiniert. Jeder ist ein Individuum, ein Ich, das antwortet auf das, was es vorfindet. Es greift als Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung ins Räderwerk der Zuschreibungen ein.
Und so möchte ich diese Frau, die, ermattet und ein werdendes Leben im Bauch, in ihrem mit Brettern vernagelten Zimmerchen sitzt, fragen: Wie heißt du? Was denkst du? Was hoffst du? Was brauchst du? Wer bist du? Du, diese einmalige Person im fernen Afrika.

Mama Afrika
Ich glaube trotz allem, wer die Vergangenheit, die man nicht mehr umschreiben kann, nicht loslässt der hat auch keine Zukunft!
Du sagst es, wir alle sind Menschen und wenn alle im Umgang humanistisch und gerecht wären, dann gäbe es keine Kriege, keinen Hass! Aber da ist eben auch der menschliche Makel und unterschiedliche Charaktere, völlig unabhängig von der Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht.
Und dann gibt es eben auch tatsächlich noch das Gute und das Böse!
LikeLike
Ja, loslassen muss man. Aber manchmal lässt die Vergangenheit einen nicht los, weil man auf Menschen trifft, die eben noch drin stecken. Heute sind es wenige, die wegen der deutschen Gräueltaten persönliche Erinnerungen haben. Aber das Muster gilt ja weiterhin und für alle. Das Kolonialerbe ist leider nicht vorbei. Afrika erholt sich nur sehr langsam davon. Der Charakter jeden einzelnen Menschen – ja, darauf kommt es an. Ich begegne dem Menschen XY und nicht einem Typus. Dieser Mensch tut Gutes oder Böses, danach werde ich ihn beurteilen, egal wie er aussieht und woher er kommt, oder in wessen Namen er handelt.
LikeGefällt 1 Person
Natürlich kann man traumatische Erlebnisse nicht so einfach loslassen, daß ist völlig klar!
Ich meinte nur, wenn die Vergangenheit nicht überwunden wird und verarbeitet wird, wie soll es dann jemals eine gute Zukunft geben! Die Zukunft ist dann immer von der Vergangenheit geprägt und es ist ein Teufelskreis!
Solange es den Menschen gibt ist daß so, weil er sich schon immer bekämpft!
LikeLike
Die Zukunft ist immer von der Vergangenheit geprägt – das ist so und lässt sich auch nicht per Beschluss ändern. Aber auch ich würde mir wünschen, dass es nicht so wäre.
LikeLike
Vielleicht sage ich es anders, wenn man die Zukunft gut gestalten will, dann sollte man aus der Vergangenheit gelernt haben!
Ach Gerda, Deine Collage ist wieder so klasse!
Ich bewundere Deine Schaffenskraft❣️‼️👌🏻👍🏻
LikeLike
Vielleicht sage ich es anders, wenn man die Zukunft gut gestalten will, dann sollte man aus der Vergangenheit gelernt haben!
Ich bewundere Deine Schaffenskraft❣️‼️👌🏻👍🏻in der Kunst und in der Kunsttherapie‼️👌🏻👍🏻🌈🌈🌈🌈
LikeLike
Ich bin ganz deiner Meinung. Man muss die Vergangenheit kennen und versuchen zu verstehen, warum es so und nicht anders gelaufen ist. Leider fehlt es an beidem.
LikeGefällt 1 Person
Ja Gerda LEIDER‼️
LikeLike
😦
LikeLike
Wer wo, wie und warum so geworden ist, wie er ist, ist mir egal. Ist der Mensch gut, dann gut. Wenn nicht, nicht. Aber ich mag es überhaupt nicht, wenn man nach tausend Gründen sucht, um Unrecht von wem auch immer ausgehend zu entschuldigen oder zu beschönigen. Und ich halte auch nicht die linke Backe hin, wenn man mir auf die rechte schlägt. Ich habe das ewige „Gesudere“, wie wir Österreicher sagen- satt. LGLore
LikeLike
🙂 Ja, gut. Aber du willst doch die Sozialpsychologie nicht vollständig abschaffen, bitte? Dann bin ich nämlich arbeitslos. 🙂
LikeGefällt 1 Person
Liebe Gerda,
ich will Dich auf GAR keinen Fall arbeitslos machen 🎈😉
LikeGefällt 1 Person
Uff, da bin ich froh! 🙂
LikeLike
Es ist vor allem – noch vor Deiner Kreativität und Bildung – Deine große Menschlichkeit, die das Mitlesen zu einem solchen Vergnügen macht.
Das musste bei dieser Gelegenheit mal gesagt werden.
LikeLike
Herzlichen Dank,schwarzer Kater.
LikeLike