Myriade zeigte uns vor drei Tagen eine Ausstellung mit künstlerischen Arbeiten von Menschen, die in Gugging, „eine(r) vollbetreute(n) Wohneinrichtung für Kunstschaffende mit Psychiatriehintergrund oder Behinderung“ leben und arbeiten. Der leitende Psychiater von Gugging, Leo Navratil, habe sich 1947, beeindruckt von der expressiven Kraft der Arbeiten seiner Patienten, an Jean Dubuffet gewandt, der sie als wesensverwandt mit seinem eigenen „art brut“ genannten Kunststil anerkannt habe. (Bildbeispiele und weitere Information findest du bei Myriade.)
Wer aber ist Jean Dubuffet? Und was ist „art brut“?
Als ich kürzlich durch die Sammlung „Zeitgenössische Kunst“ des Städel in Frankfurt wanderte, blieb ich vor einem Portrait stehen. Es vertrat als einziges Werk den französischen Künstler Jean Dubuffet (1901-1985). Er übt zugleich starke Faszination und Irritation auf mich aus, seit ich erstmals Bilder von ihm sah. Wielange das her ist? Keine Ahnung. Es muss im Pariser Centre Pompidou kurz nach seinem Bau 1977 gewesen sein.
Seither habe ich vor etlichen seiner Werke gestanden und spürte immer wieder diesem merkwürdigen Doppeleffekt von Attraktion und Abstoßung nach, ohne ihn ergründen zu können.
Dubuffets Leben begann, wie bei Wikipedia zu lesen ist, im Jahr nach der vorletzten Jahrhundertwende als Sohn eines wohlhabenden Weinhändlers in Le Havre. Es trieb ihn 1918, also nach Beendigung der Schlächterei des 1. Weltkriegs, zum Studium „der Künste“ (Literatur, Musik) nach Paris. Dort begann auch „im Umkreis der Surrealisten“ zu malen. Dann aber wandte er sich dem väterlichen Betrieb zu. Ein neuer Krieg begann. Ich weiß nicht, ob der es war, der den Weinhändlersohn in einen aktiven Künstler verwandelte. Jedenfalls machte er nun „primitive Materialbilder“, die er 1944 erstmals ausstellte und einen Skandal erzeugte. Drei Jahre später, 1947, hatte er damit in New York erste Erfolge.
Für seine Kunst benutzte Dubuffet bald den Begriff Art brut, also rohe Kunst, die er mit Rückgriff auf die Ausdrucksformen von Kindern, Naiven, psychisch Erkrankten, geistig Retardierten und gesellschaftlichen Außenseitern als „Kunst im Rohzustand“ ansah, bevor sie durch kulturelle und intellektuelle Überformung zum anerkannten Stil und zur marktfähigen Ware wird. Seinen Kunststil – denn um einen solchen handelt es sich natürlich – machte er in vielen Schriften und Vorträgen sehr erfolgreich zu seinem Markenzeichen.
Und so war sein Ruhm gut begründet in den Tiefen der kreativen Urkräfte, die sich im Malen von Kindern und Narren gelegentlich zeigen. Natürlich war Dubuffet selbst alles andere als naiv. Er war sogar höchst „sophisticated“ („verfeinert, kultiviert, intellektuell, gekünstelt“ übersetzt Langenscheid). Also machte er das, was andere naiv tun – zum Beispiel das Übereinanderlegen von Farbschichten auf Mauern, um ein neues Graffiti darauf anzubringen – zum bewussten Vorgang. Auf seiner Leinwand trug er Schicht um Schicht auf, ritzte dann „naive“ Zeichnungen hinein und verband dadurch „Trivial- und Hochkunst“.
Nachdem sein Ruf als Maler unerschütterlich geworden war, konnte er sich erfolgreich auch größeren, weniger „rohen“ Werken zuwenden. Ich sah einiges davon anlässlich einer Amerikareise (meine Fotos gingen leider verloren), aber es machte nicht denselben tiefen Eindruck auf mich wie seine „primitiven“ Bilder.
Dubuffets „Art brut“ kam mir beim „gemeinsamen Zeichnen“ mit einer jungen Frau in den Sinn, die „ganz unbeleckt von Zeichenunterricht ist“, wie ich hier schrieb.
Die Ausdrucksformen von kleinen Kindern begeistern mich auch immer wieder, so wie hier Asterias Kunstwerke .
Für mich bleibt die Frage offen, ob man die Kunst von Kindern mit der von naiven oder seelisch, geistig oder sozial an den Rand gedrängten Menschen (im Amerikanischen „Outsider Art“) in einen Topf werfen darf. Ich neige dazu zu sagen: Nein! Kinder sind anders!
Das dachte ich auch, als ich heute Morgen Schumanns ergeifende „Kinderszenen“ in der Interpretation des alten Vladimir Horowitz anhörte
https://youtu.be/yibf6QNjgGU (besonders 6:08!)
Nein, lieber Jean Dubuffet, du wirst sie nie erreichen. Das aber schmälert deine Kunst durchaus nicht. Es gehört eben zum Schwersten, die Malkunst von Kindern zu erreichen – wie der alte Picasso bedauernd feststellte.
kinder denken nicht an kunst. aber sie machen kunst. das ist der unterschied.
die „erwachsenen“ denken viel zu viel an kunst und verkrampfen sich dabei. ich bin wie beuys der meinung, dass jeder mensch per se ein künstler ist. kunst ist nichts anderes als ein ausdruck menschlichen bewusstseins… darum sträube ich mich von jeher gegen die bewertung und vermarktung von kunst.
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Danke, Margot, für deine Sicht, der ich weitgehend zustimme. Ich schrieb schon dazu in anderen Kommentaren.
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Danke, Gerda, für Dein Ja zu den Kinderbeiträgen. Die „Kinderszenen“ von Schumann habe ich gleich übernommen.
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Ich liebe Kinderkunst, allerdings verliert sie sich meistens bei Schuleintritt. Dann kommt schon was anderes, oft auch Bemerkenswertes, aber . es ist keine Kinderkunst mehr, sondern zB die Kunst von Jugendlichen, die sich selbst suchen, die anklagen und moralisch urteilen, die Außenimpulse aufnehmen und kopieren usw.
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Das liegt sicher mit an der Ausrichtung des Unterrichts. Und Kinder – und deren ehrgeizige Eltern – möchten, daß ihr Kind früh verstandesklug ist und bald überall mitreden und mitmachen kann. Schade, daß die schönsten Anlagen sich dadurch nicht weiterentwickeln. Zum Glück gibt es auch gute Lehrer.
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Die Kunst von Kindern ist wertefrei, man hinterfragt eher den psychologischen Aspekt.
Ich finde da gibt es die technische Kunst, erlernt auf Kunsthochschulen, die ich auch zum Teil verkrampft sehe und es gibt die Autodidakten Künstler/innen, die sehr wohl unverkrampft und auch frei Strömungen arbeiten.
Die Rohkunst ist sehr interessant, weil sie sich nicht im Detail verliert und minimalistisch darstellt!
Also ich habe wenig Ahnung von Kunst, daß ist meine einfache Art Kunst zu sehen!
Ein Kunststil zu haben, wäre mir zu fest gefahren zu fokussiert!
Kunst ist doch die Freiheit der Vielfalt!🤔😉
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Danke, Babsi, für deine Rückmeldung. Ich stimme dir gerne zu: Kinderkunst sollte nicht „bewertet“ werden, und überhaupt ist die „Bewertung“ von Kunst sehr problematisch. Ich kommentierte das schon weiter oben. „Schulen“ und „Stile“ sind vor allem für die Kunstkritiker und den Kunstmarkt wichtig. Künstler bringen natürlich eigene Stile hervor, aber sie sind frei, die auch wieder zu verlassen. Auch Dubuffet arbeitete später vollkommen anders. Von Picasso wollen wir erst gar nicht reden, der so ziemlich alle Stile ausprobiert hat. Dennoch versteht man sofort, wenn man vor einem Picasso-Werk steht: das hat der Pablo und kein anderer gemalt.
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Ja Gerda, jeder hat wohl so seinen speziellen Pinselstrich oder seine spezielle Dynamik, wie immer daß man nennen mag.
Dich würde ich auch sofort erkennen Gerda!😁😁😉
Vielleicht in einem Kunstwerk im nächsten Leben, wer weiß daß scho⁉️🤔✨️
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Interessant. Danke.
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Ohne Betrachter keine Kunst. Kunst „offenbart“ sich doch erst in dem Moment, wo sie von Dritten reflektiert wird?
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Das würde ich so nicht sagen, lieber Werner. Kunst „offenbart“ sich im künstlerischen Tun, ist also vor allem eine Angelegenheit zwischen dem Künstler und seiner Hervorbringung. Dritte (Leser, Zuschauer) treten ihrerseits in eine Beziehung zum Kunstwerk ein – da entsteht auch was Neues, Wichtiges, aber es ist nicht Kunst – außer der Betrachter schafft durch die Anregung nun seinerseits, etwas Neues, Eigenes.
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Ich finde, liebe Gerda, dass ein Bild zu malen oder eine Skulptur anzufertigen im Grunde nichts anderes ist, als statt Worte auszusprechen sie optisch darzustellen. Und so wie das Gesprochene ja in der Unendlichkeit verschallt, wenn es keiner hört, würden auch die „Wortbilder/Plastiken“ unbeachtet in der Unendlichkeit versinken, wenn sie keiner sähe.
Wenn es nur der Künstler sähe, würde er nur sagen können: ich habe gesprochen.
Für mich implementiert der Begriff „Kunst“ auch immer ein „das hätte ich nicht gekonnt“ und „das ist anders“ oder „festgehalten“.
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Würden wir eigentlich so viel über „Kunst“ und „NichtKunst“ etc. reden, wenn wirklich alle Menschen sich bildnerisch gestaltend äußern könnten, wir jedem Aufmerksamkeit schenkten? Ohne dafür feine Schubladen zu öffnen?? Kommen
wir doch hoffentlich bald einmal ohne all diese pauschalisierende Begrifflichkeiten
aus …nur so mein persönlicher Wunsch…als passionierte „Autodidaktin“…
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Da bin ich ganz einverstanden! Immer, bei jeder Gelegenheit versuche ich Menschen anzuregen, zu malen zu zeichnen zu dichten zu singen zu tanzen Rollen darzustellen. Ich habe auch gelernt, alles das bei Therapien einzusetzen….. Ich habe auch eine Zeitlang die Freude, dass Frauen zum gegenseitigen Zeichnen kamen – davon die beiden mittleren Bilder. Und Kindern gebe ich immer meinen Zeichenblock, wenn sie, nachdem sie mir zugeschaut haben, danach verlangen.
Professionelle Künstler – also Menschen, die von ihrer Kunstproduktion leben wollen oder müssen – unterliegen leider den Gesetzen von Kunstmarkt und Käufergeschmack Kunst als Ware steht gegen Kunst als Selbstausdruck.
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Ich leiste mir den Luxus, Kunst nur nach eigenem Geschmack zu beurteilen, wobei mir hauptsächlich der Ausdruck wichtig ist. Natürlich bewundere ich die Kunstfertigkeit alter Meister, aber meistens habe ich überhaupt keinen direkten Zugang zu den Bildern und das ist nun mal mein Kriterium. Einige Werke von Dubuffet haben mich beeindruckt, Art Brut finde ich überhaupt interessant, es können Werke dabei sein, die mich beeindrucken und andere, die mir ganz egal sind.
Kinderzeichnungen oder -malereien sind für mich etwas ganz anderes, das nicht mit den Werken von Erwachsenen ob irgendwie behindert oder nicht verglichen werden sollte.
Picasso übrigens, konnte mit dreizehn Jahren malen wie ein alter Meister, er hat sich nur für andere Richtungen entschieden bzw diese selbst geprägt. Den Spruch „na das kann ich aber auch“ finde ich immer ziemlich ärgerlich.
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Danke für deine Resonnance, liebe Myriade. Ich stimme dir in fast allem zu. Betonen wollte ich, dass es problematisch ist, völlig verschiedene seelische Zustände, in denen es einen Menschen zum Malen drängt, im Begriff „Art brut“ zusammenzufassen. Drum sagte ich: Kinder sind anders. Selbstvertändlich sind auch Hobbymaler „anders“ als „geisteskranke Maler“, usw usf. Andererseits finde ich die hinter dem Begriff stehenden Überlegungen durchaus interessant: gibt es so etwas wie eine „rohe“ Malerei, in der innere Zustände ungefiltert durch kulturelle Prägungen direkt zum Ausdruck gebracht werden?
Die Neigung, Schulen zu bilden, hat vor allem verkaufsfördernde Gründe (darauf hast du auch schon hingewiesen).
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Innere Zustände werden sicher auch sehr direkt dargestellt, aber ohne Filter von kulturellen Prägungen? Unsere Formensprache entnehmen wir unserem Unterbewussten, das ja aber auch kulturell geprägt ist. Es gibt keine Menschen, die nicht kulturell geprägt sind, auch bei Kinderzeichnungen sieht man das schon.
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OT: Wir hoffen, dies weckt ein paar schoene Erinnerungen…
https://wordpress.com/stats/post/5682/einsundeinsistzwei.wordpress.de
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Die Kunst von Kindern ist wirklich ganz besonders, wenn sie mit Freude und Hingabe an einem Werk sitzen. Ich habe es bei meinen Töchtern erlebt und einige ihrer Werke hängen hier an den Wänden und vertragen sich ganz wundervoll mit meinen Collagen… Ich stehe oft davor und wundere mich, warum ich diese bunte Pracht nie über bekomme 🙂 Ich glaube, es ist die Orginalität, durch die alle Bildwerke sich so gut vertragen *schmunzel*
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Habs verbessert. Warum solte st du sie über bekommen? Im Gegenteil, solche Dinge wachsen einem ja mit der Zeit immrr mehr ans Herz.
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Das ist wahr, liebe Gerda.
Meine ältere Tochter brauchte immer sehr lange für ihre Bilder. Sie überzog regelmässig die Fristen, die die Lehrerin gestellt hatte, weil sie nie fertig wurde 🌝
Gottseidank hatte diese BK-Lehrerin grosses Verständnis
und das Ergebnis war dann immer bildschön, auch wenn man es dem Kind aus den Händen reißen musste 🎉✨️
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meine
sollte es heißen!
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Bei mir entsteht auch Kunst Unterbewusst einfach so
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Danke schön! Ich habe auch sehr gern auf einer Seite vorbeigeschaut
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