Dora zum ZwölftenSiebten: Kunst und Identifikation (Spraybilder, tägliches Zeichnen)

Die Straßen von Kalamata sind eine Open-Air-Galerie: An den Wänden haben einige Künstler und viele Möchtegerne ihre Farbspuren hinterlassen.  Leerstehende Häuser gibt es nämlich genug, auch zahlreiche zerfallende Gemäuer.  Das ist hier so Usus. Geht ein Haus kaputt – zum Beispiel durch ein Erdbeben -, bleibt es so lange stehen, bis sich Feigen und Brennesseln das Objekt einverleibt haben oder sich ein Käufer findet, der es abreißt und ein Hochhaus baut – sofern er das darf. Denn so manches dieser Häuser steht unter Denkmalschutz und sollte eigentlich renoviert werden. Eigentlich. Aber wo ist das Geld?

Andere Häuser wiederum stehen leer, weil Kleinhandel und Kleinindustrie seit Jahren schrumpfen. Am Besten fürs Sprayen geeignet sich die hohen Brandmauern, womit ich die leeren Wände meine,  die die Häuser an den Grenzen zum Nachbargrundstück zeigen. Da stört kein Fenster und auch kein Balkon.

Dora mag die Spraykunst. Ich mag sie gelegentlich. „Guck mal“ kräht sie, als wir an einem Seeräuber vor dramatischem Himmel vorbeikommen. „Nicht schlecht gemacht“, sage ich mit einem Blick über die Schulter …

denn ich stehe vor der gegenüberliegenden Wand, die eine Mona Lisa mit eingeschriebenem Engel zeigt. „Guck mal!“ rufe ich meinerseits.

Dora guckt und kräht: „Nicht schlecht gemacht! Aber der Seeräuber gefällt mir besser. Ich will Seeräuber werden! Werd du meinetwegen Mona Lisa oder ein Engel oder auch beides.“

Hej! Das ist ja eine ganz neue Art der Kunstbetrachtung: Mir gefällt, was ich werden will? Natürlich weiß ich, dass beim Lesen,  im Theater, vor dem Bildschirm immer auch die Identifikation mit den Helden eine Rolle spielt. Wozu sonst lesen die Menschen Romane oder sehen Netflix? Sie möchten in der Fantasie Rollen durchspielen, die sie im wirklichen Leben nicht haben können. Aber bei der Malerei? Will ich etwa ein Bierglas werden, und zeichne es deshalb?

Vielleicht findet Dora meine Zeichnungen langweilig, weil es da nichts gibt, mit dem sie sich identifizieren könnte? Nichts zum Träumen, zum Mitleiden, zum Wünschen?

Aber ist es so?  Dieses Bierglas, das ich heute Nacht zeichnete, transportiert doch auch Seelenstoff, oder? Fühle nur ich die Nacht und das Licht der Stehlampe in dem goldenen Getränk, das leise sprudelt, höre nur ich das Konzert, das aus dem Radio zu mir heraus in die Nacht klingt? Weiß nur ich das halbvolle Glas und die Dose am entgegengesetzten Ende des Tisches zu deuten? Und verbinde nur ich eine Lächeln und Wundern über die fantastische Zeichenkunst in dem Buch („Orwell“, eine Comic-Biographie von Pierre Christin und Sebastien Verdier), das neben mir liegt und das ich gerade zugemacht habe?

 

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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12 Antworten zu Dora zum ZwölftenSiebten: Kunst und Identifikation (Spraybilder, tägliches Zeichnen)

  1. Gisela Benseler schreibt:

    Mir gefällt der Seeräuber auch gut. Besser? Wohl, weil ich das so gestaltete Mona-Lisa-Gemälde nicht mag, so gut es auch gemalt ist.

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  2. Gisela Benseler schreibt:

    Aber man muß zugeben, daß es viele sehr begabte Künstler bei Euch gibt, die sich an dem zerfallenden Gemäuer üben. Wenn man es in diesem Zusammenhang sieht, sagt es einem ja mehr, und es ist schön, daß Du uns darauf aufmerksam machst und auch immer wieder überraschst, Gerda.

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  3. finbarsgift schreibt:

    Feine Bierglaszeichnung 💐
    Meist finde ich Streetart nicht so attraktiv…
    Doch manchmal ist was interessantes dabei. Die beiden von dir hier gezeigten Bilder sind cool 😎
    Herzliche Morgengrüße vom Lu

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  4. Ich bin bei Dora will auch Seeräuber sein!

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  5. Seeräuber trinken auch Bier!😂Wieder eine super Zeichnung Gerda!!!!👌👍

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  6. Streetart hat ganz wundervolle Künstler und ich habe schon so vieles gesehen, was mich in hohem Maße begeistert hat, liebe Gerda.
    Biergläser, und seien sie noch so wundervoll gezeichnet, begeistern mich nicht so sehr 🙂

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