Märchenstunde

Die gestrige Puppenbühne lässt mich nicht los. Es geht doch nicht an, dass dies hübsche Mädchen und der alte Mann ohne meine Geschichte bleiben! Ihr habt mit euren Geschichtsanfängen viele Impulse gesetzt, dazu kommt die schöne Erzählung von Mama. Außerdem fand ich Meermonds „Geheimnis“ so passend für dies Kind: Konnte es nicht in den Wald gegangen sein, um Preiselbeeren zu sammeln?

All diese Impulse schieben und ziehen mich in verschiedene Richtungen, und ich fühle mich nicht im Erzähl-Fluss. Aber ein wenig von den Gedanken, die mich umtreiben, möchte ich doch zum besten geben. Hier also  mein Märchen.

Es war einmal ein Königskind. Man rief es „Prinzessin“, und das hieß: die Schöne. Prinzessinnen haben schön zu sein: weiß wie Schnee die Haut, rot wie Blut die Lippen, schwarz wie Ebenholz das Haar. Doch unsere Prinzessin hatte gar kein Haar, und es fehlte ihr auch ein Fuß. Das störte sie weiter nicht, wohl aber die Menschen, die von einer Prinzessin verlangten, perfekt zu sein. Denn wenn sie nicht die Schönste der Schönen war: wozu war sie dann überhaupt auf der Welt?

Also kamen jeden Morgen, während alle anderen im Schloss noch schliefen, sieben kleine Kammerzofen die Treppen herauf, um die Prinzessin schön zu machen , indem sie sie badeten, in hübsche Kleider steckten, ihr die Lippen rot und die Augenwimpern schwarz färbten und ihr Bein in einen Schuh zu stecken, damit man nicht sah, dass der Fuß fehlte.

Tacktacktacktacktacktacktack, grad jetzt kommen sie schon, die sieben Kammerzofen, du kannst sie hören, wenn du die Ohren aufsperrst. Sie kommen zu der Prinzessin, die in der Dachkammer in ihrem Wiegenbett liegt und so tut, als ob sie schliefe. Ach, denkt sie, wenn man mich doch in Ruhe ließe! Warum muss ich schön sein? Am liebsten wär ich unsichtbar.

Und als sie das so denkt, macht sie die Äuglein zu, denn das hilft ja manchmal, um unsichtbar zu werden. Und schläft ein. Und träumt.

Sie träumt, dass sie auf einer Rutschbahn durch das ganze stille Schloss nach unten saust und vor den Toren landet.

 

Ohne sich weiter umzusehen oder zu wundern, geht sie still in den Wald hinein. Mit ihrem gesunden Fuß schiebt sie eine goldene Kugel vor sich her. Wie sie so geht, sieht sie vor sich etwas im Dunkeln aufblitzen, aber als sie näher kommt, ist es nichts. Die Sonne hat aufs bunte Laub gefunkelt, denkt sie und wundert sich, denn es ist doch noch gar nicht Herbst.

 

 

 

Da hört sie eine tiefe Stimme, die wünscht ihr „Guten Morgen, Prinzessin“, und an der Stelle, wo eben das Gefunkel war, steht nun ein alter Mann in einem grauen und schwarzen Gewand. „Upps!“ ruft sie. „Pardon, ich hab dich gar nicht gesehen, alter Mann. Wie machst du das, dass du unsichtbar bist? Ich möchte das auch können“. –  „Nun“, sagt der alte Mann. „Ich will dir das Geheimnis gern verraten, wenn du mir dafür deine goldene Kugel gibst“.  – 

„Topp!“ ruft die Kleine und wirft ihm den Ball zu. „Und nun sag mir schon das Geheimnis, wie man unsichtbar wird!“ Der alte Mann steckt sich den Ball an seine schwarze Kopfbedeckung, wo sie leuchtet wie eine Sonne. Dann öffnet er seinen dunklen Mantel, unter dem es in allen Farben funkelt. Mit vollen Händen wirft er die funkelnden Farben über die Prinzessin und sagt: „Das Geheimnis ist einfach: Damit du unsichtbar wirst, musst du dich an die Umgebung anpassen. Oder du passt die Umgebung an dich an. Das ist sogar noch viel besser.  Ich bin dunkel, drum siehst du mich nicht, wenn Nacht und Dunkel herrschen. Du aber, liebes Kind, bist hell wie die Sonne. Wenn du dein Licht erstrahlen lässt, wird alles hell um dich.  Alle werden geblendet die Augen schließen vor deinem Licht. Und keiner kann dich anstarren“ –

Jetzt aber muss ich verschwinden, denn die Sonne steigt über die Berge. Und du musst erwachen, liebes Prinzesschen, denn die Zofen kommen schon, um dich zu baden und zu schmücken“.

Und der alte Mann wandte sich um und verschwand im nächtlichen Wald. Die Prinzessin aber dachte: Das war doch mal ein schöner Traum! Sie öffnete ihre blanken Augen und lächelte den sieben Zofen zu, die eben ihr Zimmer betraten.

 

Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Commedia dell'Arte, die schöne Welt des Scheins, Legearbeiten, Märchen, Meine Kunst, Psyche, Träumen abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

27 Antworten zu Märchenstunde

  1. Ulli schreibt:

    Welch eine Freude!

    Gefällt 3 Personen

  2. Elke H. Speidel schreibt:

    Das ist mal ein Märchen der anderen Art! Sehr schön, sehr originell, sehr liebenswert, danke.

    Gefällt 4 Personen

  3. hikeonart schreibt:

    Erkenne dich selbst. Werde der du bist. Eine sehr schöne, bildkräftige Geschichte.

    Gefällt 2 Personen

  4. Mein Name sei MAMA schreibt:

    Sehr schöne Geschichte!

    Gefällt 3 Personen

  5. kopfundgestalt schreibt:

    Hat mir auch sehr gefallen. So weich, so sensibel, so unberührt.

    Gefällt 2 Personen

  6. Sandra Matteotti schreibt:

    Möge das Kind weiter als helles Licht in die Welt strahlen.

    Gefällt 2 Personen

  7. Eichhoernchenverlag schreibt:

    Liebe Gerda, dies sind wahrlich zaubervolle Bilder!
    Herzliche Grüße
    Nina

    Gefällt 1 Person

  8. kunstschaffende schreibt:

    Liebe Gerda,
    der Zauber Deiner Geschichte, strahlt bis zu mir herüber! Sie sagt mir, selbst im finstersten Wald verbirgt sich ein gutes Licht, man muss es nur zulassen, so wie Deine Prinzessin!

    Dir noch einen zauberschönen Restsonntag!

    LG Babsi

    Gefällt 1 Person

  9. mmandarin schreibt:

    Zauberhaft im wahrsten Sinne des Wortes. Danke, Marie

    Gefällt 1 Person

  10. www.wortbehagen.de schreibt:

    Ach, wie wunderschön ist diese Märchengeschichte, liebe Gerda. Eine Prinzessin mit einem einzigen Fuß *lächel*. Auf eine solche Idee kommt nur, wer hinter die Dinge schaut und die glitzernde Oberfläche beiseite schiebt

    Herzlichst, Bruni

    Gefällt 2 Personen

  11. www.wortbehagen.de schreibt:

    *lach*, schließt das eine das andere aus? 🙂

    Gefällt 1 Person

  12. Meermond schreibt:

    Oh, das ist aber eine sehr schöne Geschichte!
    Richtig zauberhaft – oder wie ich in diesem Fall sagen würde: wunderfein!
    Ganz herzliche Grüße!

    Gefällt 1 Person

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..