Griechisches Alphabet des freien Denkens Ν wie Νους/Νοος=Verstand

96px-nu_uc_lc-svg ist der dreizehnte Buchstabe des griechischen Alphabets. Ja, der dreizehnte, der verhexte, der zwiespältige, der mysteriöse, der gefährliche, der zauberische – wer will das beurteilen. Er leitet sich vom phönizischen Nun = Schlange ab 34px-phoeniciann-01-svg. Das Wort, mit dem ich es verbinde, ist NOUS (zu sprechen Nus mit gelängtem u) oder NOOS (vergl. Noosphäre). Und in gewissem Sinn ist er ein Gegenbegriff zu Ullis heutigem Wort G=Güte.

Νους  ist am besten mit Verstand zu übersetzen. Er wird auch als Vernunft oder gar als Geist wiedergegeben, aber das führt, finde ich, in die Irre. Geist ist πνεύμα, und Vernuft ist λόγος.

Νους ist ein sehr altes Wort, so alt wie die Überlieferung der griechischen Sprache, und es hat natürlich einige Wandlungen durchgemacht. Aber der Bedeutungskern hat sich, meine ich, nicht geändert. Und was ist Nous? Mein kluger Gewährsmann Heraklit sagt:  „Vielwisserei führt nicht zu NOUS.“ Sofort kam mir das berühmte Paar Faust-Wagner in den Sinn. Der eine sagt: ich will wissen, was die Welt im Inneren zusammenhält – der Faust hat NOUS. Der andere sagt: Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen – das ist offenbar Un-NOUS.

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des Pudels Kern, Bildausschnitt mit Wagner und Faust

Wie meist, wenn ich meinen täglichen Meeresspaziergang mache, dachte ich auch heute über den nächsten Buchstaben nach. Nous – Verstand -, was ist das eigentlich? Ich schaute mich um, sah das weißliche Geröll der Steine, das sich in allerlei Mustern am Strand abgelagert hatte. Ich lauschte auf das Heranrollen der Wellen und das leise klirrende Tönen des Wassers, das ins Meer zurückströmte. Ich fühlte den Meeresatem und eine große Freude, dort herumzuspazieren und das vergnügte Wedeln und Schnüffeln meines Hundes mit dem Blick zu verfolgen. Ich fühlte mich als Teil der Welt, der ich „innewohnte“. Nun aber dachte ich: was ist Verstand? Und fing an zu fragen: Welche Kräfte wirken denn eigentlich auf die Steine, dass sie sich so und nicht anders anlagern? Welche Gesetze sind es, die das Meer in atmender Bewegung halten? Wie lässt sich das Knirschen der Steine unter meinen Sohlen erklären? Wenn ich über Sand gehe, klingt es anders. Warum?

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Wie hoch steht die Sonne? Jahrezeit? Uhrzeit? Ort? wieso werfe ich diesen Schatten? Formuliere das Gesetz.

Gestern schrieb ich über M=Μusik und Pythagoras. Als der, an einer Schmiede vorbeigehend, den Klang der Hämmer auf dem Eisen hörte, sagte er nicht: o wie schön der Klang oder wie grässlich der Lärm, sondern er fragte sich: „Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Gewicht jeden Hammers und dem Klang? Und wenn ja, welchen? Das muss ich ausprobieren“. Was er tat. „Aha, ja, es gibt einen Zusammenhang. Der lässt sich mathematisch darstellen. Und wenn ich nun das Verhältnis zwischen den Gewichten (zB 2:3 kg oder 3:4 kg) auf ein anderes Material übertrage und aus dem Gewicht eine Länge mache – habe ich dann dasselbe Ergebnis?“ Er baute sich ein Monochord und stellte fest: „Ja, so ist es. Es gibt offenbar eine Gesetzmäßigkeit zwischen der Tonschwingung und Größe/Länge/Gewicht eines Gegenstandes. Und wenn ich zwei verschiedene Gegenstände habe, so stehen ihre Schwingungen in einem bestimmten Verhältnis. Als harmonisch empfinde ich ein Verhältnis, wenn es sich in ganzen Zahlen darstellen lässt. Gebrochene Zahlen wirken unharmonisch“ – auch das stellte er fest……und kam schließlich, in immer erneuerter Denktätigkeit (nun ohne Hilfsgeräte und Instrumente, durch reine Schlussfolgerung) zu dem Ergebnis, dass die Planeten in einem harmonischen Verhältnis zueinander klingen.

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In der Schmiede (c) Gerda Kazakou

So also arbeitet der NOUS. Er schlussfolgert aus sinnlichen Beobachtungen und geht dann denkend über sie hinaus. Er stellt Hypothesen auf, er kann sich irren, er kann Irrtümer erkennen, er kann Wissen generieren und weiterentwickeln. Der Nous ist mithin ein unverzichtbarer Vorantreiber der menschlichen Entwicklung.

Verstand, das wissen wir alle, hat keinen besonders guten Ruf. Denn immer steht er im Verdacht, frei von Moral zu sein, und sich also in gute wie schlechte Dienste zu stellen. Die christliche Kirche (und nicht nur diese) ist sogar ausgesprochen negativ gegen den Verstand eingestellt. Er führe in die Irre, vielleicht sogar auf dem kürzesten Weg in die Hölle. „Selig sind die Armen im NOUS“, predigen die Priester aller Religionen, „denn ihrer ist das Himmelreich“ – was sie freilich nicht hindert, ihrerseits Wissen zu sammeln, zu schulen und zu verfeinern (die Jesuiten sind dafür ein gutes Beispiel).

Der Verstand – soviel stimmt – hat den Menschen aus dem Seinszusammenhang herausgelöst, in dem er lebte. Der Mensch hat sich quasi aus der Welt herauskatapultiert, als er begann, systematisch über ihre Gesetze nachzudenken. Ich/Welt – der Dualismus, unter dem wir bis heute leiden – wurde in der griechischen Antike geboren, als der NOUS sich als Funktion des ICH gewaltig zu entwickeln begann. Zunächst funktionierte er noch innerhalb des intuitiven Denkens und der allgemeinen Seelentätigkeit, aber immer mehr löste er sich heraus und wurde zu einer alles beherrschenden Lebenshaltung, die man seit dem 19. Jh als „naturwissenschaftliches Denken“ bezeichnet.

Der Mensch stellte sich außerhalb und bald auch gegen die Welt (Natur, Schöpfung), in der er lebte und aus der er sein Wissen schöpfte. Und so begann er, seine eigene Existenz zu unterminieren.

Aber können oder sollen wir zurück zum vor-wissenschaftlichen Denken? Ich sage: Nein. Wir müssen da durch. Wir brauchen den Verstand, wir brauchen ihn sogar nötiger denn je, um der Katastrophen Herr zu werden, die der Mensch mit seinem Verstande angerichtet hat und weiter anrichtet. img_2589-inversUnd um den Zusammenhang mit Ullis „mutigen Träumen“ herzustellen: wir brauchen ihn ganz besonders, um Frieden zu sichern. In meinem Kommentar zu Ulli https://cafeweltenall.wordpress.com/2017/01/03/alphabet-mutig-getraeumt-f-frieden/ schreibe ich: „Um ihm (dem Frieden) näher zu kommen, muss ich jeden Tag die richtigen Entscheidungen treffen, die vielleicht nicht Frieden bringen, aber doch meine Mitbeteiligung am Krieg und seiner Vorbereitung verhindern. Soweit es an mir liegt.“  Wie aber kann ich die richtigen Entscheidungen treffen? Indem ich die Ursachen für Kriege analysiere. Kriege fallen ja nicht vom Himmel, sie sind menschengemacht. Es gibt Gründe, warum sie stattfinden (nationale Interessen, Bündnisverpflichtungen), es gibt Mittel, sie durchzuführen (Waffen, Armeen), es gibt Politiker, die sie für nötig erachten, es gibt Wirtschaftsinteressen (Waffenindustrie, Ölkonzerne, Bodenschätze), an denen auch der Wohlstand meines Landes hängt …. Es gibt vielleicht darüberhinaus noch andere Gesetze, zB alte Atavismen, Unvereinbarkeiten von Lebensformen, Rivalitäten, Gewaltkultur, soziale Spannungen usw. Um Frieden zu schaffen, muss ich zu allererst das Meine dazu beitragen, einen Krieg zu verhindern – hier und jetzt, in meinem Lebensumfeld. Dafür muss ich die Tatsachen kennen und die Gesetze, wie Konflikte entstehen und wie sie ohne Krieg gelöst werden können. Und muss entsprechend meine Bürgerrechte ausüben.

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Damit ich den Frieden will, brauche ich eine geistige Haltung, brauche ich einen mutigen Traum. Aber um aus diesem Traum die richtigen – dh erfolgversprechenden – Schritte abzuleiten, dafür brauche ich Verstand. Genauso viel Verstand, genauso viel Wissen wie die, die Kriege vorbereiten. Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.

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Über gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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14 Antworten zu Griechisches Alphabet des freien Denkens Ν wie Νους/Νοος=Verstand

  1. teggytiggs schreibt:

    …der Verstand ist ein nützliches Werkzeug, doch wie alle Werkzeuge kann auch er missbraucht werden…mir gefällt die Ähnlichkeit des Zeichens mit einer Schlange, die ist klug, wandelbar und wächst, indem sie sich häutet, Altes abwirft…dem Verstand ähnlich…auch er kann über sich hinauswachsen…

    …“In der Schmiede“ gefällt mir besonders…so leicht und luftig wirkt es, lebendig durch die kräftige Arbeit…

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    • gkazakou schreibt:

      mir gefiel auch sehr, dass das Zeichen mal Schlange bedeutet. Manche halten die Schlange ja für ein böses Tier, weil es den Menschen die Erkenntnis und also die Freiheit, gut und böse zu handeln, gab. Ich halte sie hoch in Ehren. „Verstand“ kommt ja von „verstehen“ und ist erst durch die kirchliche Auslegung in Verruf geraten (genauso wie die Schlange, die das Wissen aus den Tiefen der Erde emporträgt)

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  2. Ulli schreibt:

    jeder mutige Traum wird letztlich vom verstand genährt, denn nichts anderes tut ja der mutige Träumer, die mutige Träumerin, sie beobachten, was sie umgibt, wie es beschaffen ist, sie fragen, sie hinterfragen, sie stellen etwas infrage- ich glaube, dass Verstand genau sich hier ausweist, denn wie es heisst es doch immer so schön, schon in der Sesamstrasse: wer nicht fragt, bleibt dumm. Fragen von Kindern sollten nach Möglichkeit von den Erwachsenen immer beantwortet werden, selbst wenn man etwas nicht weiss, kann man nachschauen, das schult dann beider Verstand und die Kinder lernen nebenbei, dass auch die Grossen nicht allwissend sind. Mein Sohn sagte einmal als halbwegs erwachsener Mann zu mir, dass er sein Allgemeinswissen von mir hätte- da staunte ich- er führte es dann noch aus, hej, stolz war ich da auch.
    Aber zurück zur Sachlage und zu deinem Artikel, der einen wunderbaren Bogen geschlagen hat (das mal nebenbei), Verstand bringen wir mit, die einen mehr, die anderen weniger, und er kann geschult und geschärft werden und das ist auch wieder so etwas, das in den modernen Schulen und Unis vernachlässigt wird- ich hörte letztens Statements von Professoren, die monierten, dass die Art, wie heutzutage Schule und Unis organisiert sind die Menschen verlernen selbständig zu denken- sie und ich empfinden dies als Alarmsignal-
    soweit erst einmal, liebe Gerda, sonst wird es ein Roman …
    herzliche Abendgrüsse
    Ulli

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    • gkazakou schreibt:

      Gefällt mir sehr, Ulli, wie du schreibst, dass der mutige Traum vom Verstand genährt wird. So ist es! Verstehen müssen wir, und aus dem Verstehen unseren Traum speisen! Danke für diese weiterführende Einsicht. Gute Nacht! Gerda

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      • Ulli schreibt:

        Durch meinen heutigen Artikel gibt es noch eine neue Gedankenverbindung, nämlich die der Freiheit

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      • Ulli schreibt:

        shit … ich kam auf senden war doch noch gar nicht fertig, grmpf… also der andere Aspekt ist der der Freiheit, der uns verbindet, da es ja jeder und jedem frei steht sich der Welt des freien Denken, der Welt der mutigen Träume zuzuwenden oder eben nicht … dazu kommt für mich, dass ich, je weiter ich fortschreite in meiner menschlichen Entwicklung mich umso freier fühle, weil ich mich von einigen der früheren knebelnden Emotionen befreien konnte.
        hab einen schönen Tag
        Ulli

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  3. kunstschaffende schreibt:

    Mut kann ja von beiden Seiten gesteuert werden nämlich vom Verstand und vom Gefühl!

    ❤ Abendgrüße Babsi

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  4. kunstschaffende schreibt:

    Solange es so extreme soziale Ungleichheiten gibt, wird es immer eine explosive Spannung geben! Das sind dann wieder sehr negative Schwingungen!
    Durch die Weltüberbevölkerung wird das Spannungsproblem nicht kleiner, da kommen dann Ressourcen Kriege und Überlebens Kämpfe hinzu! Dieser Kommentar war jetzt von meinem Verstand gesteuert!
    Ich frage mich auch, kann man sich dann noch Güte erlauben, wenn es ums nackte Überleben geht? Ich Maße mir nicht an, zu sagen was ich dann tun würde! Vielleicht kommt es dann erst darauf an, was stärker ausgeprägt ist der Verstand oder das Herz. Humanistische Reden können wir alle halten, wie es in Extrem Situationen aussieht steht auf einem anderen Blatt! Vielleicht handeln wir dann letztendlich nach unserem Instinkt!

    ❤ Grüße und danke liebe Gerda für die Herausforderung den Verstand in Bewegung zu halten!
    Übrigens mein ❤ sehnt sich auch nach dem Weltfrieden! Irgendwie ist Beides ambivalent!

    Liebe gute Nacht Grüße Babsi

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  5. Caroline schreibt:

    Ein sehr spannendes Thema! liebe Grüße Caro

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