112 Stufen, 112: Weite (Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Hesse)

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Ist mit „Weite“ nun die letzte Stufe der Holsteiner Treppe erreicht? Man sollte es meinen, denn angeblich sind es 112 Stufen – und ich habe nun die 112. Stufe betreten. Doch merkwürdigerweise gibt es darüber noch ein Stufe – davon morgen.

Zu „Weite“ fiel mir als erstes das Gedicht ein, das Goethe am 31. Juli 1814 schrieb und das sich im Buch des Sängers aus dem West-östlichen Divan befindet. 1817 erschien es unter der Überschrift Vollendung. Es gehört zu den wichtigsten und rätselhaftesten Gedichten, die ich kenne.

 

Johann Wolfgang Goethe

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Je älter ich werde, desto mehr engt sich die räumliche Bewegung ein. Ich reise wenig, beschränke mich auf kleine Spaziergänge. Veranstaltungen besuche ich selten, neue Bücher reizen mich kaum. Auch der zeitliche Rahmen, in dem ich planen kann und mag, schrumpft täglich.

Aber ist Ferne nun für mich „schwierig“ geworden?

Nein, ganz im Gegenteil. Merkwürdigerweise geht nämlich mit dem schrumpfenden Bewegungsradius und der geringen noch zu erwartenden Lebenszeit eine Weitung des Bewusstseins einher. Dass ich einen immer größeren gelebten Zeitabschnitt überschaue, ist das eine: für mich ist ja der gesamte Zeitraum 1942-2025 gelebte Zeit, ich kann in ihm herumspazieren wie in einem bekannten Haus und mir das eine und andere besehen. Aber es gibt da noch etwas anderes.

In dem Maße, wie mich das raumzeitliche Planen kaum noch angeht, weitet sich mein Blick. Dass, was irgendwann mal wichtig erschien und mich einengte, ist für mich nicht mehr relevant. Ich darf mich denkend kümmern um die weiten Räume der Erde, des Himmels und des ganzen Kosmos, die ich mit meinem suchenden geistigen Auge abtaste.  Und so tut sich langsam ein neues Verständnis auf von den großen Wandlungen und Verwandlungen des „Stirb und Werde“, die jeder einzelne wie auch unsere Erdenwelt und der gesamte Kosmos durchlaufen.

Anschaulich und gar nicht rätselhaft beschreibt Hermann Hesse den Durchgang durch die verschiedenen Lebensräume als Aufblühen, Abschied, Neubeginn. Und wenn der letzte Raum durchschritten ist: was kommt dann? Neue Räume öffnen sich – weit und weiter.

Hermann Hesse

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1953, 1961
Aus: Die Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2001

(Die Schnipsel für diese Legebilder verdanke ich Susanne Haun.)

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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21 Responses to 112 Stufen, 112: Weite (Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Hesse)

  1. Nun hast Du die oberste Stufe erreicht, Gerda, schneller als ich gedacht hätte.
    Für Dich ist diese Abrundung aber kein Ende sondern eine neue Weite und Offenheit.
    Auch das hatte ich nicht gedacht. Nunja, man lernt nie aus.
    Die Auswahl der Gedichte macht es ja auch möglich, für Dich und andere.
    „Fertig“ wird unsere „Weisheir“ ja nie sein,
    und wir dürfen auch manche unvollendet lassen, um uns neu zu üben…..

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  2. Avatar von elsbethberlin elsbethberlin sagt:

    Liebe Gerda, Du bist mit vielen, vielen besonderen Texten und Gedanken diese lange Holsteiner Treppe in Wuppertal hinaufgestiegen. Und hast uns mitgenommen !! Oben, in die Weite blickend, fiel mir die Stimme der Wuppertalerin, der Künstlerin Else Lasker-Schüler ein. Unermüdlich hatte sie, die NSVerfolgte, in ihrem Exil in Jerusalem versucht, sich mit Kunst und Kultur aktiv gegen Krieg, Hass einzusetzen. Ein Gedichtfragmment aus ihrem Nachlass, das mitten im Satz abbricht…

    Ein einziger Mensch ist oft ein ganzes Volk
    Doch jeder eine Welt
    Mit einem Himmelreich wenn
    Er der Eigenschaften uredelste pflegt:
    Gott
    Gott aufsprießen lässt in sich
    Gott will nicht begossen sein
    Mit Blut.
    Wer seinen Nächsten tötet
    Tötet im Herzen aufkeimend Gott
    Wir können nicht mehr schlafen in den Nächten
    Wir bangen mit den

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  3. Avatar von Johanna Johanna sagt:

    Dieser Beitrag bewegt mich sehr und ich spüre die Weite und den Wind, der immer weht.. aber woher?

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  4. Du hast da die zwei Gedichte zusammengeführt, die auch für mich sehr prägend, mein ganzes Leben, bis heute, geblieben sind, von früh an, immer wieder, durch alle Phasen meines Lebens. Ich gebe mir größte Mühe, aber ich kehre wieder und wieder zu Hesse und Goethe zurück – ist das ein sprachliches Phänomen, ich weiß es nicht. Schön, wie du sie zusammengestellt hast, und toll, wie du dieses Stufenprojekt durchgezogen hast. Ich werde nach und nach noch einiges wiederlesen und neu entdecken. Herzliche Grüße, auf viel Weite, umfängliche Größe und Fröhlichkeit.

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  5. Du hast sehr schon in Worte gefasst, was auch ich empfinde…

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  6. Avatar von Ulli Ulli sagt:

    Guten Morgen, liebe Gerda, ich dachte gerade an meine Freundin, die nun 83 Jahre alt ist. Sie ist nicht mehr gut Zufuß, aber äusserst rege in ihrem Geist. Sie liest seit einiger Zeit ihre alten Morgenseiten und hat große Freude daran, was sie einst geschrieben hat und staunt manchmal darüber, dass sie solches zustande gebracht hat. In sich spazieren gehen, das ist etwas sehr Schönes!

    Herzliche Grüße, Ulli

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  7. Avatar von Leela Leela sagt:

    Liebe unermüdliche Kletterin, von all deinen Stufentexten hat mich dieser hier am meisten berührt. Die beiden Gedichte mit ihrer tiefen Einsicht und ganz besonders, die Weite, die du spürst in der zunehmenden räumlichen Beschränkung. September färbt die Blätter bunt bevor sie sich langsam lösen und dem Spiel des Windes anvertrauen…

    Leela

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  8. Als ich „Weite“ und „Goethe“ las, fiel mir sofort das Lied der Mignon aus „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren ein. „Nur, wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide. Ach, der mich liebt und kennt ist in der Weite…“ Du hast etwas anderes gewählt. – Im Januar werde auch ich 83 sein.

    Grüße von Gerel!

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Danke, Gerel. Dies Lied kenne ich auch sehr gut und liebe es. Doch hier ist „Weite“ in einem Sinne gebraucht, den ich selbst nicht benutze. Ich glaube, auch Goethe tats nur um des Reimes willen, der dazu auch noch unsauber ist. Liebe Grüße!

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  9. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Es ist sehr beachtlich, dass du die ganze Treppe geschafft hast mit einem Beitrag jeden Tag. Chapeau!

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  10. Avatar von Myriade Myriade sagt:

    Ja, das war schon ein Riesenaufwand und noch dazu gut gemacht nicht einfach in 5Minuten abgehandelt. Dass du nun wieder Zeit für zB die Impulswerkstatt hast, freut mich natürlich sehr!

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