112 Stufen, 101: Hoffnung (Dante Alighieri, Julian Assange und Willi(e))

Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.

Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Gravour von Gustave Dore (1890)

Als erstes fiel mir Dante Alighieri (1265 – 1321) und die Inschrift über dem Höllentor ein: Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!

Die Inschrift ist in Wirklichkeit länger – und berührender -, als dieser kurze apodiktische Satz. Sie lautet:

Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlornen Volke.
Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,
Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und die erste Liebe
Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,
Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.
Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!

(Inschrift auf dem Tor zur Hölle, dritter Gesang, Vers 1-9 (Dante: Göttliche Komödie, Inferno))
 

O weh! Mitleid packt mich, die ich das lese. Und eine Frage rührt sich: Woher weiß Dante, dass die Dreieinigkeit Allmacht – Weisheit – Liebe vor aller Zeit das fürchterliche Reich von ewiger Trauer – Schmerz – Strafe erschuf? Die Gerechtigkeit verlange das. Welche Gerechtigkeit?

Die griechische Göttin Nemesis sorgt für den Ausgleich in der Natur: Sie rächt furchtbar, wenn das Gleichgewicht von Geben und Nehmen zerstört wurde – wenn also eine Art zu viel nimmt und zu wenig gibt. Hoffnung, dass Nemesis nicht einschreitet, besteht nur und ausschließlich dann, wenn das Fehlverhalten rechtzeitig korrigiert wird. Es nützt nichts, Nemesis anzuflehen. Denn sie handelt aus Notwendigkeit, gegen die selbst Götter machtlos sind, und Hoffnung ist vollkommen fehl am Platze.

Karma ist ein ähnliches, mehr auf den Menschen zugeschnittenes Konzept des Ausgleichs: Was du tust, denkst, fühlst sind Taten, und sie haben notwendige Folgen in der Welt. Für diese Folgen bist du immer und ewig verantwortlich. Auch dein Tod erlöst dich nicht davon. Doch erbarmungslos ist dieses Konzept nicht; denn du kannst in nachfolgenden Reinkarnationen die aufgehäuften Schulden abbezahlen, und so bleibt dir die Hoffnung, dass du dich einmal auch vom schwersten Karma wirst befreien können.

Dantes christliche Hölle aber ist erbarmungslos. Lass alle Hoffnung fahren. Kein Lernen, keine Besserung, keine Wiedergutmachung, kein Neuanfang möglich. Aus und vorbei. Nur Christus oder „Gott in seiner Gnade“ kann erlösen. Ich gebe zu: das Konzept gefällt mir nicht. Denn es gibt denen, die sich als „Vertreter Gottes auf Erden“ etabliert haben, eine ungeheure Macht in die Hand.

Hoffnung ist wie ein schwankendes Brett nach einem Schiffbruch, man klammert sich dran und späht verzweifelt umher, ob sich nicht irgendwo wirkliche Hilfe zeigt.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und ist sie tot, stirbt auch der Mensch“ –  so schrieb ich am 10. Dezember 2021 im „schrecklichen Adventskalender“ mit Bezug auf Julian Assange: “

Die Nachricht: Ein Londoner Berufungsgericht hat das Verbot, Julian Assange an die USA auszuliefern, gekippt. Das ist schlimm. Denn was Assange bisher schon hat erleiden müssen, wurde nur erträglich durch die Hoffnung, dass er bald auf freien Fuß kommt. Und nun das.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und ist sie tot, stirbt auch der Mensch. Diese junge duftende Zitronenblüte von meinem heutigen Spaziergang schicke ich dem armen Mann in sein Hochsicherheitsgefängnis, in dem er schon so lange willkürlich festgehalten wird.

Ich freue mich, dass ich diese Anknüpfung im Archiv fand und hier auf der 101. Stufe der Holsteiner Treppe präsentieren kann. Denn im Fall Assange hat die Hoffnung den Menschen durchgetragen, bis er schließlich frei kam. Und das macht auch mir Hoffnung.

Im Jahre 2022 hinterließ die Begleiterin des Jahres Willi(e) ein Zwillingspaar: Élpis und Apelpis. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Ich fand es bei Willi(e)s Weggang auf der Türschwelle und betrachtete es:

Das rosa Ding, offenbar die Elpis – was auf Deutsch Hoffnung bedeutet -, wirkte ganz nett, ein klein wenig wie diese chinesischen Pandas, deren Schwarz-Weiß-Gesicht mich immer irgendwie an das ebenfalls chinesische Yin-Yang erinnert. China ist ja grad in aller Munde – also passt es ganz gut. China – der Hoffnungträger? Wer oder was aber ist dieses blauköpfige Schrumpelding an ihrer Seite? Vielleicht Europa, die auf dem letzten Loch pfeift?

Aktuell auch das, finde ich….

 

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About gkazakou

Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
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8 Responses to 112 Stufen, 101: Hoffnung (Dante Alighieri, Julian Assange und Willi(e))

  1. Dieser Eine, der am Tor zur Hölle steht, hält sich ja für wichtiger als der Dreieinige HERR des Himmels und der Erde. – das ist uns doch bekannt und nichts Neues.

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  2. Und dem gibt Dante hier eine Stimme wie Goethe im „Faust“ dem „Mephisto“. Das ist auch bekannt.

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  3. Außerdem hat die „Ewige Weisheit..“ niemals eine Hölle erschaffen. LUZIFER wurde, als die Schöpfung entstand, als „Engel“ erschaffen,
    der den Verstand der Menschen erleuchten sollte…
    Die Menschen waren es anscheinend selbst, die Ihm einen hohen Thron erbauten und Ihn anbeteten.
    Und dadurch wuchs seine „Macht“ über die Menschen.
    Wir brauchen uns nur wieder richtig ein- und umstellen, uns „neu-orientieren“ im rechten Sinne……🧍👂🪻🐦✨🌅🌻🦋🌱🌨️🌊🕊️👐💗🌿👍

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  4. Es gibt das Schöpfungsgesetze der Wechselwirkung: Wenn ich die Hoffnung für andere nicht aufgebe, bin auch ich nicht hoffnungslos verloren.👍💗✨🌅

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  5. Avatar von PPawlo PPawlo sagt:

    Ein opulenter , spannender Beitrag! Deine Göttin Nemesis ist sehr beeindruckend und hat hier wohl in der Mitte des Beitrags eine vermittelnde Rolle. So viel ich weiß, lebt Assange seit dem Sommer 2024 wieder frei in Australien. Das ist doch eine gute Wende! Vielleicht war Nemesis im Spiel? 😉

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    • Avatar von gkazakou gkazakou sagt:

      Herzlichen Dank, Petra, schön, dass du aus der Pause zurück bist! Ja, Assange wurde schließlich nach einem Pseudoprozess freigelassen. Deshalb schreibe ich: die Hoffnung hat ihn durchgetragen. – Nemesis ist für mich eine der interessantesten Göttinnen, über die ich schon öfter geschrieben habe. Sie war sehr schön, ihre Statue stand in Ramnous/Attika, wurde aber durch christliche Mönche in tausend Stücke zertrümmert. Auf ihrem Sockel, teilweise wieder zusammengeflickt, sah man u.a., wie Leda ihre Tochter Helena deren „eigentlicher Mutter“, Nemesis, zuführt. Ich habe dort in Ramnous mal eine Aufstellung zu Nemesis gemacht, es war sehr beeindruckend. Mit den Menschen hat sie kaum Berührung, sie ist eine Schützerin der Natur.

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