Reiner hat ein „Mitmachding“ initiiert. Es geht darum, jeden Tag einen Text zu einem Wort zu posten, das sich auf der Holsteiner Treppe in Wuppertal, verteilt auf 9 Absätze befindet. Es reizt mich, da mitzumachen, allerdings eher nicht mit eigenen Textproduktionen, sondern mit literarischen Assoziationen und Gedichten anderer. Ich bin gespannt, welche Texte, Gedichte, Geschichten jedes dieser Wörter in meiner Erinnerung aufleuchten lässt. All diese Erinnerungen an Gelesenes und im Gedächtnis Aufgehobenes sollen mir einen nachklingenden Teppich weben, den ich über die Stufen lege, um noch einmal hinaufzusteigen.
Noch einmal kehre ich zum „Vormärz“ zurück, diesmal aber handelt es sich nicht um den feurigen Heinrich Heine oder den umtriebigen Georg Herwegh, sondern um den besonnenen Ludwig Uhland (1787-1862), dessen Namen ich erst im Gymnasium und dann später in meinen Tübinger Studienanfängen begegnete.
Mein Verhältnis zu Uhland war nicht liebevoll, sondern eher kritisch-naserümpfend. Dieser Tübinger Dichter und Politiker schien mir der Inbegriff der bisslosen akademischen Republikaner, die sich 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung mit den Fürsten und dem preußigen Königshaus um die Verfassung eines noch zu gründenden Deutschland balgten. Und seine zu seinen Lebzeiten und noch weit darüber hinaus so geschätzte volkstümliche Dichtkunst schien mir verdächtig. War es nicht Uhland, der das Lied „Ich hatt einen Kameraden“ dichtete, das der SA so lieb war und das auch heute noch vom deutschen und österreichischen Heer mit Inbrunst gesungen wird?
War er nicht besonders geehrtes Mitglied der Tübinger Schlagenden Verbindung „Germania“ (in der Nazizeit überführt in die Kameradschaft Ludwig Uhland), die mir samt all den anderen Burschenschaften, die ihre Häuser entlang des Neckar unterhielten, zutiefst verhasst war? Auch Carl Ludwig Sand (1795-1820), der den Dichter Kotzebue (1761-1819) – er hatte sich die Deutschnationalen und Antisemiten rund um den „Turnvater Jahn“ zu Feinden gemacht -, ermordete, gehörte dazu…
Kurzum, ein Rattenschwanz von Negativ-Gefühlen und Vorurteilen verband sich mir mit dem Namen Ludwig Uhland. Schade eigentlich, denn er selbst war ein ruhiger, besonnener Mann, der es gut mit Deutschland meinte und sich niemals fanatisierte. Ihm schwebte zwar eine „großdeutsche Lösung“ unter Einbeziehung von Deutsch-Österreich vor, aber ein gewaltsamer „Anschluss“ hätte ihm ferngelegen. Er stritt für die Abschaffung des Adels und wünschte sich, wenn sich das Königtum nicht ganz vermeiden ließ, das mittelalterliche Wahlkönigtum für das zu gründende Deutschland. Er vertrat diese seine Auffassungen in den Parlamenten, in die er von seinen Mitbürgern geschickt wurde, in ruhiger verständlicher Sprache und oft genug auch in Gedichtsform. Er war Jurist, ein wenig trocken und schüchtern und ziemlich wortkarg, vor allem aber war er ein Mediavelist, der sich der Mühe unterzog, das deutsche Mittelalter anhand der auf viele Orte verstreuten Dokumente ans Licht der Moderne zu ziehen. Seine Dichtung sprach zu den Deutschen seiner Zeit, und durch die Kompositionen von Franz Schubert, Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy wurden sie zu einem Bestandteil des deutschen Liederbes. Politisch steht er am Beginn des Gedankens der deutschen Einheit in demokratischer Verfassung, als Volksvertretung noch meinte, was das Wort sagte: Vertretung des Volks durch frei gewählte Repräsentanten. Kann man ihn verantwortlich machen für das, was weniger gemäßigte Nachgeborene mit seiner Dichtung anstellten? Sicher nicht.
Und so mag sein 1816 verfasstes politisches Gedicht „An die Volksvertreter“ hier für den Begriff „Besonnenheit“ stehen.
An die Volksvertreter (1816)
Ludwig Uhland
Schaffet fort am guten Werke
Mit Besonnenheit und Stärke!
Laßt euch nicht das Lob betören!
Laßt euch nicht den Tadel stören!
Tadeln euch die Überweisen,
Die um eigne Sonnen kreisen:
Haltet fester nur am echten,
Alterprobten einfach Rechten!
Höhnen euch die herzlos Kalten,
Die Erglühn für Torheit halten:
Brennet heißer nur und treuer
Von des edlen Eifers Feuer!
Schmähn euch jene, die zum Guten
Lautern Antrieb nie vermuten:
Zeigt in desto schönrer Klarheit
Reinen Sinn für Recht und Wahrheit!
Was ihr Treues uns erwiesen,
Sei von uns mit Dank gepriesen!
Was ihr ferner werdet bauen,
Sei erwartet mit Vertrauen!
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Beerdigung Ludwig Uhlands auf dem Tübinger Stadfriedhof. Das Das Senken der Fahnen über dem Sarge, Zeitgenössischer Holzstich. (Abb bei Wikipedia)
